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Eruptierende Redeströme

Mutter und Tochter nehmen ein Bad im See  ■ Von Gabriele Goettle

Am frühen Vormittag fuhr ein blaßblauer Trabant vor, bis fast zum Ufer des Sees. Zwei Frauen stiegen aus. Die eine, blond, in mittleren Jahren, mit strähnigem Haar, Seglermütze, weißem T-Shirt, blauen Hosen und Schuhen aus Leinen, trug Tasche, Badetücher und Decke über dem Arm, suchte ein Plätzchen im Halbschatten und breitete alles aus.

Die andere, um vieles ältere Frau, hatte Mühe beim Aussteigen, stützte sich auf zwei Stöcke und ging langsam und leicht schwankend zwischen ihnen dahin. Sie trug eine verwaschene helle Kittelschürze, die notdürftig von einer Sicherheitsnadel zusammengehalten wurde, dazu neue Badeschuhe aus Plastik. Kaum am Rande der Decke angekommen, warf sie ihre Stöcke beiseite, öffnete die Sicherheitsnadel und ließ den Kittel zu Boden sinken. Nun war sie nackt, dehnte sich, streckte sich, die Haut auf dem Rücken legte sich in zahllose Falten und wurde mit dem Senken der Arme wieder glattgezogen. Dann ging sie mit kleinen, vorsichtigen Schritten zum Ufer, überwand sogar mit viel Geschick die Böschung und ließ sich dann vornüber ins Wasser fallen. Auf dem Rücken liegend, trieb sie leicht und langsam davon. Nun schritt auch die jüngere Frau nackt zum Wasser, ihre Haut war weiß, nur auf Brustansatz und Nacken lag ein leichter Sonnenbrand. Sie machte einen flachen Kopfsprung, tauchte ein Stück neben ihrer Begleiterin wieder auf, rief ihr etwas zu und kraulte dann derart schnell zur Mitte des Sees, daß das Wasser aufschäumte.

Nach einer ziemlichen Weile kamen sie beide wieder an Land, gingen unbefangen grüßend vorbei und ließen sich ein paar Schritte neben uns auf ihre Decke nieder, schwer atmend und offensichtlich sehr zufrieden. Wir hatten uns für den Tag mit Zeitungen und Zeitschriften eingedeckt und blätterten, eher zerstreut, darin herum. „Die haben wir auch abonniert, seit Ewigkeiten schon“, rief die jüngere Frau uns zu, deutete auf die Wochenpost und fuhr fort: „Aber wir wollen sie jetzt abbestellen, nicht, Mutti?“ Die Mutter nickte, strich sich das feuchte Haar unter dem Haarnetz zurecht und sagte: „Wir haben die schon wer weiß wie lange, 1983, als mein Mann noch lebte, haben wir sie immer gern gelesen, aber heute ... Nee! Die taugt nichts mehr!“ Und die Tochter fügte hinzu: „Die ist ja so was von rechts geworden, das ist eine Zumutung für uns! Sie haben das ganz allmählich gemacht, das fing an, seit der... wie hieß er noch, der vorige Chefredakteur, weggegangen ist... Mutti, wie hieß der gleich?“ Aber die Mutter wußte es auch nicht. „Greffrath“, sagte ich und die Tochter wiederholte „Greffrath, Mathias Greffrath, ja, seit der weg ist, ging's nur noch bergab mit der Zeitung.“

„Wir lesen sie einfach nicht mehr, nur abbestellen müssen wir sie noch. Ich überlege, ob ich einen Brief dazu schreiben soll. Wahrscheinlich wäre das nutzlos, veröffentlichen werden sie ihn doch nicht“, sagte die Mutter und legte sich das Handtuch quer über den Bauch.

„Also das mit dem Brief, ich weiß nicht“, fuhr die Tochter fort, „wir haben hin und her überlegt, aber heutzutage muß man ja schon wieder auf seine Worte achten, daß es nicht eines Tages heißt, die hat da und da was Negatives geäußert, hat sich ein Urteil angemaßt... man weiß ja nie! Besser ist vielleicht, einfach nur wortlos zu kündigen. Wie machen Sie das im Westen drüben?“

„Genau wie hier“, antwortete ich, „man kündigt, mit oder ohne Kommentar, je nach Laune. Außer der Beendigung des Abonnements folgt daraus gar nichts, da können Sie ganz sicher sein.“

„Bestimmt?“ fragte die Mutter zweifelnd.

„Ganz bestimmt!“ sagten Elisabeth und ich fast einstimmig.

„Dann ist es ja gut! Dann schreib ich ein paar Zeilen“, sagte die Mutter beruhigt.

Unser Hund kehrte von einem eigenmächtig unternommenen Spaziergang naß und mit Kletten in den Ohren zurück. „Ein schöner Hund ist das, ach ist der schön! Guck mal, Mutti!“ rief die Tochter. Die Mutter machte schnalzende Geräusche und streckte den leicht zitternden Arm aus: „Ja komm mal her, du Schöner, bist ein gutes Tier... warst wohl auch im Wasser, bei der Hitze, was, nu komm mal...“ Der Hund ging auch brav hin, ließ sich ein wenig herzen, hinterließ lehmige Pfotenabdrücke auf der Decke und legte sich dann etwas abseits in die Sonne.

„Wissen Sie“, sagte die Tochter, „das geben wir ja gerne zu, in der DDR war wirklich nicht alles paradiesisch, aber es hat keiner unter bedrückenden alltäglichen Sorgen gelitten, um Wohnung, Arbeit und Einkommen bangen müssen, und vor allem, ich als Arztsekretärin, weiß wovon ich spreche, es gab so gut wie keine Lungentuberkulose bei uns, die hatten wir erfolgreich im Griff, es gab kaum Allergien, ganz zu schweigen von Aids und solchen Sachen. Davon steht nichts in der Zeitung.“ – „Viel war nicht in Ordnung, das weiß man heute besser als damals, denn wenn einem nichts weiter fehlt, dann läßt man sich's gutgehn und kümmert sich nicht weiter...“, warf die Mutter ein.

Die Tochter fuhr fort: „Also was ich sagen will, ist, wir haben heute wieder zunehmend Fälle von Tuberkulose zu verzeichnen, und entsprechend dazu nehmen Armut, Obdachlosigkeit und Alkoholismus zu, die Schwächung unseres gesamten Immunsystems, wir kriegen plötzlich andauernd Infektionen, Pilze, Ausschläge... woran liegt das?“

„Also ich merke noch nichts“, sagte die Mutter triumphierend und ließ ihre Blicke über Brüste, Bauch und Beine schweifen, „bei mir ist, bis auf die leidigen Knochen, alles beim alten. Mein Mann starb nach der Wende...“ – „Vati hatte ein Tanzorchester“, erklärte die Tochter.„Na, das war ein wunderbarer Mensch“, fuhr die Mutter fort, „so was gibt's heute gar nicht mehr...“

Die Tochter fiel ihr ins Wort: „Die Mutti stammt noch von den Manteuffels ab, der Opa war der Max von Manteuffel, der war schon damals ein linker Sozialdemokrat, er war ein fortschrittlicher Mann, mit viel, viel Sinn für Gerechtigkeit.“

„Ja“, pflichtete die Mutter bei, „wir alle haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, aber wenn ich mir heute die Sozialdemokraten so ansehe, da müßte jeder aufrechte Mensch sofort austreten, die dulden ja sogar Rechte in ihren Reihen!“

„Unmöglich!“ rief die Tochter aus, „gut, daß Vati das alles nicht mehr erleben mußte.“

Die Mutter blickte über den See und sagte dann: „Das war so ein lebenslustiger Mann, aber die ganzen Umwälzungen hat er nicht verkraftet. Er hat bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr die Kapelle geführt, dabei sah er so jung aus wie sechzig. Man merkte ihm nichts an. Er hatte eine Zwölf-Mann-Kapelle, darunter auch junge, begabte Musiker, und eine prima Sängerin. Die sind laufend aufgetreten, in Jena allein jedes Jahr zweimal, und beim Abiturientenball...“ Die Tochter seufzte und verteilte großzügig Sonnenmilch auf ihre kräftigen Arme und Brüste.

„Das waren Zeiten...“, sagte die Mutter mehr zu sich selbst, „wir haben auch viel privat gespielt, sind auf Tanzturnieren aufgetreten, auf Betriebsvergnügen, dem Ärzteball, sogar beim internationalen Tanzturnier. Wir waren sehr zufrieden, was die Kultur anging – denn da hat man in der DDR doch sehr viel an Kunst und Unterhaltung gefördert für den Bürger, davon hat ja kaum was überlebt – ja, und zufrieden waren wir auch mit dem materiellen Erfolg...“ – „Bei uns war es ja so“, erklärte

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die Tochter, „daß eigentlich jeder, der ein bißchen sparsam war und Rücklagen gebildet hat, sich ein eigenes Häuschen bauen konnte. Wir haben unsers beizeiten gebaut, zum Glück, sagen wir heute, bei den hochschnellenden Mieten. Da hat unser Vati vorgesorgt.“

„Aber wahr ist auch“, sagte die Mutter plötzlich heftig, „daß bei uns die Partei die Lehren des Sozialismus veruntreut hat, wir haben unser bequemes Leben geführt und nichts dagegen getan. Hätten wir uns an Marx, Engels, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gehalten, dann wäre das alles nicht so ausgegangen! Was glauben Sie, was das für ein Selbstbedienungsladen war bei uns, alles wurde geklaut und verschoben von ganz oben bis ganz unten, war ja alles volkseigen. So wie sie die Lehren des Sozialismus verschludert haben auf Nimmerwiedersehen, so hat auch der kleine Mann für sich nur den Vorteil aus der Sache gezogen. Mit den Deutschen kann man keinen Sozialismus machen! Das ist meine Meinung. Der hat keine Zivilcourage, kein Temperament, nichts. Das ist ein Bürokrat, einer, der sich's in Ruhe einrichten will unter einem starken Führer.“

„Aber Mutti“, protestierte die Tochter, „im Grunde war's mit uns doch genauso...“

„Unsinn!“ rief die Mutter ärgerlich aus. „Doch, doch!“ sagte die Tochter, „wir waren doch zu DDR-Zeiten gute Mittelklasse, waren privat, wir waren der Klassenfeind!“ – „Schon, schon“, räumte die Mutter ein, „aber das lag eben an den bürokratischen Verordnungen, was haben wir denn schon für Vorteile davon gehabt, keine, man mußte sich ebenso wie alle anderen auch bescheiden. Dafür sind wir heute quasi ganz unten angekommen auf der sozialen Leiter, wir gehören nämlich nicht zu denen, die buckeln und sich anstellen gehn in den Fluren der Ämter. Wir wählen auch nicht mehr, wir kochen auf ganz kleiner Sparflamme.“

„Wählen waren wir zweimal nach der Wende, das hat uns gereicht. Der aufgeblasene Kohl und der im Rollstuhl da... nee, das sind alles furchtbare Menschen, schon auch vom Anblick her, dasselbe unbewegte Gesicht wie damals bei unseren....“, sagte die Tochter. Die Mutter fügte hinzu: „Ja, das sind Bluthunde, der Kohl und der Dingsda... aus Süddeutschland, Schäuble und auch der Rühe, die sind alle unbeschreiblich unsympathisch. Dagegen waren ja früher solche SPD-Männer wie der Wehner, der Schmidt und auch der Brandt das reine Gold...“ – „Der Wehner“, sagte die Mutter anerkennend, „der hat unverschämt viel Verstand gehabt, das war ein schlauer Fuchs, der konnte sie alle in die Tasche stecken.“ – „Ein bißchen zu wankelmütig war er vielleicht“, widersprach die Tochter.

„Der doch nicht!“ entrüstete sich die Mutter. „Wie auch immer“, fuhr die Tochter unbeeindruckt fort, „viele Leute gehen nicht zur Wahl, weil sie keiner Partei Vertrauen entgegenbringen, auch nicht der PDS. Neulich sagte ein älterer Arzt zu mir folgendes: „Nicht, daß Sie einen falschen Eindruck bekommen, ich war früher ja dem Sozialismus gegenüber eher kritisch eingestellt, als Christ, aber jetzt, wo er überall zusammengebrochen ist, weltweit, da sehe ich, daß er doch menschlichere Züge hatte als der Kapitalismus, da konnte ich ihm nur zustimmen.“

„Der Kommunismus war das kleinere Übel, ich weiß, wovon ich spreche. Sehnse mal, ich bin 85 Jahre alt, mir macht keiner mehr was vor! Es sind doch immer dieselben Interessen, die sich durchsetzen, und warum? Weil es keine Einigung unter den fortschrittlichen Kräften gab, immer nur Zank, Streit, Intrige, Machtstreben. Der Sozialismus hätte weltweit eine Chance gehabt, sich durchzusetzen, nach dem Ersten Weltkrieg, wenn Einheit in der Linken geherrscht hätte, wenn die Länder endlich zur Vernunft gekommen wären, dann hätten wir ein Zahnradsystem gehabt, international, da hätte eins ins andere gegriffen und sich befördert, aber es kam geradezu umgekehrt, das ist traurig“, sagte die Mutter.

Die Tochter unterbrach das Kämmen, zupfte die Haare zwischen den Zinken ihres kleinen blauen Kammes heraus, ließ sie im Wind davonfliegen und sagte: „Eigentlich ist das gar nicht zu verstehen, jeder Bürger müßte doch daran interessiert sein, unter einer vernünftigen Regierung zu leben, die für das Allgemeinwohl einsteht. Was soll das, Besserverdienende, Millionäre, Milliardäre, all diese Konzerne, Trusts, Kartelle, Syndikate, das ist doch Kriminalität im großen, niemand weiß mehr, wie das alles zusammenhängt, wir bekommen nur immer die Folgen zu spüren. Was will denn der Bürger? Bildung für alle, Wohnraum für alle, Arbeit für alle. Ich habe noch das Glück gehabt, konnte mich sorglos entwickeln. Ich habe reiten gelernt, schwimmen, Musikinstrumente zu spielen, und ich habe Motorradfahren gelernt, alles fast umsonst, für ne Mark im Monat, das konnte sich jeder leisten. Und ich habe eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten, auch umsonst.“ – „Und was hast du immer geschimpft, auf all das!“ warf die Mutter ein. „Stimmt, ja“, sagte die Tochter, „man war jung und manches schien uns verlockender. Alter DDR-Witz zu diesem Thema: ,Was ist der Unterschied zwischen Ostfrau und Westfrau am Morgen? Die Westfrau hat hinter sich eine schöne Liebesnacht, vor sich eine Urlaubsreise in die Südsee, an der Linken hat sie einen Diamanten, an der Rechten einen Schlüssel für den Porsche. Die Ostfrau hat hinter sich ihre Nachtschicht, vor sich eine Sonderschicht, an der Linken schwere Einkaufsnetze, in der Rechten den Kinderwagen.‘ Heute bin ich selber eine Westfrau, aber mit der Südsee und dem Porsche wird es wohl nichts mehr in meinem Leben. Ich bin eine gut ausgebildete Arztsekretärin, mit Latein und Fremdsprachenkenntnissen, sogar Laborerfahrung habe ich, aber ich bekomme keine Arbeit mehr in meinem Alter, und je länger ich draußen bin aus dem Beruf, um so weniger komme ich in Frage, die geforderten Kenntnisse heute, mit Abrechnungswesen und all dem, sind ja sehr spezialisiert und vielfältig, da reicht unser DDR-Wissen nicht aus. Man wollte mich umschulen, hat mich bedrängt, es war unerträglich, dann habe ich mich nicht mehr gemeldet, und sie haben die Zahlungen eingestellt...“

„Wir leben eben bescheiden“, sagte die Mutter, „aber nicht nur, weil es sein muß, auch aus Überdruß. Wenn man das sieht, diese überquellende Warenfülle, was alles produziert wird, da kann einem die Lust vergehen. Das wird doch gar nicht gebraucht, all dieses Zeug! Das bißchen, das wir beide verbrauchen, das kaufen wir freitags. Hätten wir unser Haus nicht und meine Rente, dann ging's uns dreckig.“

„Ja, leider. Das hätte ich auch nicht gedacht, daß ich mal von deiner Rente leben muß, Mutti. Früher hatten wir alles, konnten uns was leisten, konnten reisen. Wir waren mehrmals in der Ukraine, in Kiew, wir hatten dort Freunde gefunden, und das waren keine Stalinisten, sondern sehr vernünftige Leute, das können Sie mir glauben. Damals waren dort alle Menschen rundlich und gesund, sie haben gearbeitet und einen gehoben, gesungen und musiziert, trotz der, für unsere DDR-Verhältnisse jedenfalls, relativen Armut“, erzählte die Tochter. „Bis das dann anfing damals, mit dieser Perstroika und ... wie hieß das?“ fragte die Mutter.

„Glasnost?“ entgegnete die Tochter. „Genau“, fuhr die Mutter fort, „damit hat er doch alles erst runtergebracht und was haben sie jetzt? Die Sowjetunion ist zerfallen, es herrscht Krieg, und es herrscht eine Mafia. Die Alten und Verarmten verlieren ihre Wohnungen, können die überteuerten Waren des täglichen Bedarfs nicht mehr bezahlen.“

„Und das ist noch nicht alles“, rief die Tochter, „viele Frauen prostituieren sich, es gibt schon Baby- Kriminelle, Mörderkinder, die dem Rentner für ein paar Rubel das Messer in den Rücken stecken.“ – „Schrecklich, ja, aber so wie das alles gekommen ist, wäre die DDR auf jeden Fall untergegangen, wenn nicht heute, dann eben morgen. Aber so was kommt nicht wieder, so eine Sicherheit, wie wir sie bei uns zu DDR-Zeiten hatten, das ging alles friedlicher zu. Nachts um zwei konnten Sie auf die Straßen gehen, ob Frau oder Ausländer, da passierte nichts. Heute wird man vergewaltigt oder totgeschlagen.“

„Überall nur noch Kriminalität und Verbrechen. Ich habe, solange ich hier lebe, früher nie was gehört von einem Mord in unserer Gegend. Jetzt andauernd. Neulich erst haben sie einen alten, alleinstehenden Mann in seinem Haus überfallen, die Täter haben ihn an einen Stuhl gebunden, geschlagen, und als er wohl nicht gesagt hat, wo sein Geld ist, haben sie ihm das Haus über dem Kopf angezündet. Man fand nur noch die verkohlte Leiche“, erzählte die Tochter.

Die Mutter zog sich die Kittelschürze über, schloß sie mit der Sicherheitsnadel, angelte nach ihren Stöcken und seufzte: „Wir sind vom Regen in die Traufe geraten. Wie haben wir oft über die Mauer geflucht, früher, aber wäre sie damals schon weggekommen, dann hätten wir damals schon Zustände bekommen wie heute. Viele haben das nicht verkraftet, mein Mann nicht und andere auch nicht. Der große Schauspieler Wolf Kaiser, der hat sich aus dem Fenster gestürzt, der Willi Schwabe ist von einem Verrückten angefahren worden und hat wochenlang im Krankenhaus gelegen, er ist glaube ich, auch gestorben, unser Professor Bade hat sich zu Tode gequält...“ „Mutti, die beiden Frauen wissen doch gar nicht, wer Professor Bade ist...“, sagte die Tochter tadelnd, half der Mutter beim Aufstehen, zog sich an und erklärte plötzlich ernüchtert und fast ein wenig beschämt: „Entschuldigen Sie, wir haben so viel erzählt, es liegt vielleicht daran, daß wir überhaupt keine Westkontakte haben. Mit der Verwandtschaft von Mutti drüben haben wir gar keinen Kontakt mehr, das sind alles Rechte...“

„Nicht Onkel Günther!“ protestierte die Mutter.

„Der auch!“ sagte die Tochter kategorisch, „also es freut uns jedenfalls, daß wir so offen mit ihnen beiden reden durften, bei uns im Hause würden mir viele die Scheiben einschlagen, wenn wir das alles sagen würden, was wir Ihnen gesagt haben.“ Sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck und fuhren bald darauf hupend davon.

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