■ Tabuzonen im „Großen Vaterländischen Krieg“: Mit den Geschichtsmythen leben?
Michail Semirjaga ist Professor für Militärgeschichte, arbeitet in der Redaktion der „Enzyklopädie des Großen Vaterländischen Krieges“ und sitzt der Moskauer „Vereinigung zur Wahrung der Rechte von Archivbenutzern“ vor
taz: Vor fast vier Jahren am Vorabend der 50jährigen Wiederkehr des deutschen Überfalls auf die UdSSR klagten Sie über die Mengen sensibler Themen, die in der Neufassung der Kriegsenzyklopädie nicht angerührt werden durften. Wie steht es heute mit der „Schwierigkeit, die Wahrheit zu verbreiten“?
Semirjaga: Die weißen Flecken wurden nicht weniger, im Gegenteil. Das ist ganz natürlich. Je tiefer man eindringt, desto mehr Fragen tauchen auf. Doch haben wir unseren Menschen sehr viel verheimlicht. Leider kann man nicht behaupten, die Hindernisse wären im Laufe der letzten Jahre beseitigt worden. Eine ganze Reihe Leute, und unter ihnen gerade hochgestellte, glauben nach wie vor, unserem Volk fehle die nötige Reife, um alle Enthüllungen zu verarbeiten. Sie trauen ihm immer noch nicht. Gerade wegen des ungeheuren Leids, das unser Volk ertragen mußte, sollten wir die dunklen Seiten schonungslos offenlegen. Damit die unbestritten übermenschliche Leistung des Krieges nicht überschattet wird.
Woher rührt diese Angst noch 50 Jahre danach?
Wenn wir Geheimnisse lüften, könnte das Volk den gesamten Sieg in Zweifel ziehen, fürchten sie. Ich halte das für ausgeschlossen. Heute wird das bei uns richtig aufgenommen. Reicht nicht allein der Hinweis, was für ein starker Gegner Deutschland war, der den gesamten Kontinent unterworfen hatte und bereits vor Moskau stand? Zudem mit einer Militärmaschinerie im Hintergrund, an die unsere nicht im entferntesten heranreichte ... Da konnten Fehler doch nicht ausbleiben. Natürlich begreifen die Russen das. Das Denken dieser Zauderer hinkt unserer Zeit hinterher. Über vieles, was zum Geheimnis gemacht wird, wurde längst geschrieben.
Die überragenden Leistungen des Generalissimus Stalin wurden bereits in Frage gestellt. Die Debatte über die leichtfertigen Opfer wird offener geführt. Wo stießen Sie noch auf Widerstand?
Ich wollte die Rolle des NKWD (späterer KGB, d. Red.) und der Sondertruppen des Innenministeriums im Kampf gegen antisowjetische Einheiten, man nannte sie damals Banden, im Baltikum und in der Ukraine untersuchen. Hier besonders den Krieg gegen Banderas Leute. Kommt nicht in Frage, lehnten sie kategorisch ab. Und warum? Es hätte Fälle gegeben, wo Gegner hingerichtet wurden. Natürlich verstieß das gegen internationales Recht. Schließlich ließ sich der gesamte Partisanenkrieg nicht vom Buchstaben des Rechts leiten. Eine an sich absurde Vorstellung. Ich beruhigte sie, kaum jemand könne das mißverstehen. Ein ideologischer Krieg kennt keine Grenzen der Brutalität und ist nur mit den Kreuzzügen vergleichbar. Vergeblich.
Ich spüre, wieviel man vor uns noch verbirgt. Die Archivdirektoren, nicht einmal eine Kriegsgeneration, tun gleichsam so, als wären wir die schlechteren Patrioten. Ich fragte: Wie können Sie an meinen Patriotismus zweifeln? Ich habe doch den ganzen Krieg mitgemacht. Jetzt geben Sie mir nicht einmal Dokumente, die ich an der Front selbst unterzeichnet habe ... Einfach Dummheit.
Die Gesellschaft zeigt sich eher gleichgültig gegenüber der konkreten Geschichte. Sie will mit der „offiziellen“ Darstellung und ihren Mythen leben. Selbst in Schulen wird noch nach dem alten Verständnis unterrichtet ...
Ja, das stimmt. Schüler und selbst Studenten wissen eigentlich nichts. Demnächst findet eine Konferenz statt, die sich zum erstenmal damit befaßt, wie man zukünftig den 2. Weltkrieg im Unterricht behandeln will.
Noch immer beginnt der Krieg im Jahr 41 ...
Schulbücher behandeln den Angriff auf Finnland 1939 als Verteidigungsmaßnahme, die der Sicherung des Landes diente. Finnland, der Aggressor mit seinen drei Millionen Bürgern! In der Wissenschaft geht es allerdings offener zu. Lange stempelte man auch Englands und Frankreichs Kriegsbeteiligung als imperialistisch ab. Erst ich habe auf den politischen Charakter, den gerechten Krieg aller Gegner des Faschismus hingewiesen. Die Schulbuchautoren sind fast durch die Bank der alten Ideologie verpflichtet. Archive haben sie nie betreten. Selbst dem Hitler-Stalin-Pakt gewinnen sie etwas Positives ab. Nach dem Motto: Wir haben Hitler an der Nase herumgeführt und unsere Grenze zweihundert Kilometer weiter nach Westen verschieben können. Was würden sie schreiben, hätten sie beim Stöbern etwa Marschall Woroschilows Befehl vom 29. November 1939 entdeckt: Innerhalb einer Woche Vyborg, in der nächsten Helsinki zu erorbern und unsere roten Insignien auf dem Präsidentenpalast zu errichten. Danach sollten sie die schwedischen Grenztruppen begrüßen! Die Annexion Finnlands war das Ziel, aber wer weiß, was sie noch vorhatten? Schweden, Norwegen? Zeigt sich daran nicht, wie gespalten unsere Gesellschaft ist? Die stärkste Festung ist und bleibt der menschliche Schädel.
Und das Baltikum?
Die Aktionen gegen Polen und das Baltikum rechnen wir nicht zum Großen Vaterländischen Krieg. Sie zählen zum Zweiten Weltkrieg. Diese Periode war von lokalen Kriegshandlungen bestimmt, die chronologisch in den Rahmen des Zweiten Weltkriegs gehören. Aber sie stellen keinen grundlegenden Bestandteil dar. Finnland und Polen spielten keine maßgebliche Rolle. Die Kriegshandlungen bis 41 gehören nicht zum 2. Weltkrieg.
Ist das nicht eine sehr akademische Differenzierung, die den Blick auf den imperialen Charakter der Sowjetunion verstellt?
Als einziges Land haben wir für den Krieg eine eigene Bezeichnung. Großer Vaterländischer Krieg. Warum verzichten die anderen Alliierten auf eine besondere Benennung? In ihren Augen war es ein Koalitionskrieg. Sie wollen sich nicht absondern. Obwohl wir „unseren“ Krieg im Rahmen des 2. Weltkriegs begreifen, herrscht doch die Meinung vor, er sei selbständiger Natur. Bis heute wird die Sichtweise verteidigt, jeder kämpfte für sich.
Der Krieg endete für Rußland am 9. Mai. Japan wurde danach angegriffen ...
Wir hielten die Siegesparade ab. Dann zogen wir aus, Japan zu bestrafen.
Wofür? Die Japaner hielten sich an den Nichtangriffspakt
Für die Niederlage im Russisch- Japanischen Krieg 1905. Das ist kein Unsinn, so etwas schwang mit. Japan war eine vom Krieg abgekoppelte Unternehmung. Hätte Spion Sorge uns nicht informiert, daß die Japaner keinen Vorstoß gen Norden planen, wären vierzig frische Divisionen im Fernen Osten gebunden gewesen. Frische Kräfte aus Sibirien. Kaum auszudenken, was vor Moskau passiert wäre. Stalin hat damals jeden einzelnen Panzer auf die Verteidigungsstellungen verteilt, so verheerend war die Lage. Interview: Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen