: Das „Jalta-Syndrom“
Die Polen sind enttäuscht über das Tauziehen um die Teilnahme Walesas an der Gedenkfeier in Berlin / Von Moskau verschaukelt ■ Aus Warschau Reinhold Vetter
Vor wenigen Tagen veröffentlichte OBOP, eines der großen Meinungsforschungsinstitute Polens, das Ergebnis einer Umfrage, wonach 71 Prozent der Erwachsenen die Auffassung vertreten, Lech Walesa solle den 50. Jahrestag des Kriegsendes im eigenen Lande begehen. Die Meinungsforscher interpretierten dieses Ergebnis nicht in erster Linie als Beweis für die Akzeptanz gegenüber Walesas aktueller Position im Streit um die Gedenkfeiern, sondern vielmehr als Ausdruck einer gewissen Grundstimmung im Lande, die da lautet, an diesem Tag gebe es wenig zu feiern; schließlich sei der Befreiung vom Hitlerfaschismus die Eingliederung in den sowjetischen Machtbereich gefolgt, der polnische Staatspräsident habe an diesem Jahrestag gefälligst zu Hause zu bleiben.
Zu dieser Grundstimmung kommt die Enttäuschung vieler Polen über das Tauziehen um die Teilnahme Walesas an der Gedenkfeier in Berlin. Wieder einmal fühlt man sich von den Deutschen nicht verstanden und von der internationalen Staatengemeinschaft zurückgestoßen. Moskau wiederum wirft man vor, durch das Spiel mit den Einladungen innenpolitischen Streit in Polen heraufbeschwören zu wollen. Zunächst hatte Jelzin Walesa zum 8. Mai nach Moskau eingeladen. Walesa, verärgert, weil er keine Einladung aus Berlin erhalten hatte, und unsicher, ob ein Moskau-Besuch wegen des Tschetschenien-Krieges derzeit opportun sei, hatte dankend abgelehnt. Daraufhin erging die Einladung an Walesas Widersacher, Premier Josef Oleksy.
Die Enttäuschung geht quer durch alle politischen Lager. Man erinnert an die Millionen polnischer Opfer des Zweiten Weltkriegs, an den gut organisierten Widerstand unter Führung der „Heimatarmee“, auch an die Tatsache, daß viele polnische Soldaten an allen Fronten mit den Alliierten gekämpft haben. Und, so wird betont, in Polen habe es, anders als in Frankreich, der späteren Siegermacht, keine Kollaboration mit der Besatzungsmacht gegeben.
Gerade in Deutschland gebe es eine gewisse Ignoranz gegenüber bestimmten historischen Fakten, die sich auch schon früher gezeigt habe. Etwa beim Besuch des SPD- Vorsitzenden Scharping 1994, als dieser bei einer Rede in der Warschauer Universität den 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes mit keinem Wort erwähnt habe.
Bronislaw Geremek, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Sejm, betonte in einem Gespräch mit der Gazeta Wyborczy, ausgehend von den historischen Fakten sollte Polen eigentlich an allen Feiern in London, Paris, Bonn, Berlin und Moskau beteiligt sein. Gerade das Vorgehen Moskaus erinnere ihn an die unselige Situation im 18. Jahrhundert, als schon damals ausländische Botschaften in Warschau damit beschäftigt gewesen seien, innere Konflikte Polen aufzuheizen.
Insofern ist die Kompromißlösung, Außenminister Wladyslaw Bartoszewski am 28. April vor dem Bundestag sprechen zu lassen, für viele Polen nicht zufriedenstellend. Zu wenig, so heißt es, habe man sich in Bonn Gedanken über mögliche andere Formen der Gedenkfeiern gemacht. Auch unter Einbeziehung der Staaten, die ebenfalls unter den Deutschen gelitten hätten, aber nicht zu den Siegermächten zählten.
So zeigt die Auseinandersetzung um den 8. Mai, daß das „Jalta- Syndrom“ in Polen noch nicht überwunden ist (Während der Konferenz von Jalta 1945 hatten die Alliierten die Aufteilung Europas beschlossen, d. Red.). Nach wie vor, meinte etwa Walesa in einer Erklärung am 5. April, gebe es bessere und schlechtere Europäer. Selbst einige Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Fall der Berliner Mauer sei Europa noch immer geteilt. Tatsächlich läßt sich nicht von der Hand weisen, daß die Organisatoren bestimmter Gedenkfeiern das Denken in Jalta-Kategorien noch nicht ganz abgelegt haben.
Zu den schwierigen äußeren Bedingungen im Zusammenhang mit dem 8. Mai kamen Dilettantismus, Eitelkeit und Verantwortungslosigkeit im Lande selbst. So wissen Politiker, Diplomaten und Fachleute in Warschau nur zu genau, daß Außenminister Bartoszewski wenig Professionalität bewies, als er mit seinem Vorschlag, Walesa nach Berlin einzuladen, vorpreschte. Es fehlte die interne Konsultation, die Beratung mit Fachleuten, auch die Absprache mit dem Präsidenten.
Wenig souverän ist schließlich die Kritik an der geplanten Moskau-Reise von Oleksy. Walesas Sprecher Spalinksi brachte es sogar zu der dümmlichen Äußerung, Oleksys Absicht, an der dortigen Gedenkfeier teilzunehmen, stehe vor allem im Zusammenhang mit seiner früheren Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei – den Wolf ziehe es eben in den Wald zurück. Im übrigen hat sich Oleksy selbst noch nicht dazu geäußert, inwieweit er bei seinem Auftreten in Moskau die internationale Kritik am Vorgehen Rußlands in Tschetschenien thematisieren will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen