Frankreichs Meinungsforscher irrten gewaltig. Den siegesgewissen Fans des konservativen Kandidaten Jacques Chirac blieben die appetitlichen Partyhäppchen im Halse stecken, die Anhänger des abgehängten Gaullisten Edouard Balladur wechselten schon mal die Fronten. Und der Sozialist Lionel Jospin war auf eine Siegesrede gar nicht vorbereitet. Aus Paris Dorothea Hahn

Saure Äpfel, herber Wein

Der ausgestopfte Erpel zwischen Rohkostplatte und Wurstwaren lädt zum Schlemmen ein. Gegenüber leuchten appetitlich aufgeschichtete grüne, rote und gelbe Äpfel – das Wahlkampfsymbol des Kandidaten Jacques Chirac. Doch in dem großen weißen Zelt, das quer über die Pariser Avenue d'Iena gespannt ist, greift niemand nach den Delikatessen. Auch der Wein bleibt an diesem Sonntag abend stehen.

Die Mitglieder der Wahlkampftruppe des konservativen Präsidentschaftsanwärters und seine Unterstützer aus Kunst und Showbusineß, die zu der angekündigten Siegesfeier gekommen sind, warten ab. Dabei haben die Wahllokale in der Provinz bereits zugemacht, nur in den großen Städten Frankreichs wird noch bis acht Uhr am Abend gewählt. Die ersten Hochrechnungen über das Abschneiden des weit abgehängt geglaubten sozialistischen Kontrahenten werden im Flüsterton weitergegeben. „Laut Sofres liegt Jospin in Führung“, verrät eine enge Mitarbeiterin Chiracs. Wie dicht das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden konservativen Kandidaten Chirac und Balladur ist, sagt in dem Festzelt im vornehmen Pariser Westen niemand. Der zu feiernde Kandidat selbst läßt sich nicht blicken; er hat sich mit Ministerkollegen hinter den Mauern seines benachbarten Hauptquartiers – „QG“ – verschanzt.

Im QG des Wahlkämpfers Lionel Jospin auf der linken Seine- Seite, wo die Intellektuellen residieren, wartet die Crew des Kandidaten der demokratischen Linken auf das Ergebnis. Eine zweite Veranstaltung – bei der die sozialistische Parteiführung zugegen ist, die Jospins Wahlkampf immer skeptischer beurteilt hatte – spielt im Parteisitz der Sozialisten. Ein paar hundert Leute von der Basis – Jugendliche, die in den vergangenen Wochen Plakate geklebt haben, und Unterstützer aus Film und Theater – haben sich an diesem Sonntag abend in einer Aula der Hochschule für Chemie versammelt. Die Optimisten unter ihnen glauben, daß ihr Kandidat den Einzug in den zweiten Wahlgang schafft. Darüber haben sie Wetten abgeschlossen. Die erstaunlichen Hochrechnungen aus der Provinz, die auch hier kursieren, nimmt bis dahin niemand ernst.

Als das Fernsehen dann kurz nach 20 Uhr die ersten Hochrechnungen verkündet, wogen plötzlich die hellen türkisfarbenen Schilder mit der Aufschrift „Jospin, président“ über den lachenden und tanzenden Menschen. „Nein, das hätte ich nie geglaubt“, sagt eine alte Sozialistin und reibt sich die Tränen aus den Augen. „Das ist die größte Überraschung meines politischen Lebens“, sagt ein anderer Genosse.

„Jospin hat einen ausgezeichneten Wahlkampf geführt“, sagt ein Spitzensozialist im Fernsehen. Von der Kritik an dem strengen, protestantischen Stil des Lehrers Jospin, an seiner Rückkehr zu den alten linken Werten, an seinem mangelnden Charisma ist an diesem Abend des unerwarteten Sieges keine Rede mehr. Der Kandidat muß nicht nur drei verschiedene Veranstaltungen bedienen, sondern auch auf einmal als Sieger auftreten. Vielleicht dauert es deshalb so lange – über eine Stunde nach Bekanntwerden seines Abschneidens –, bis Jospin vor die Mikrofone tritt. Er dankt seinen Wählern. Er grüßt seine Gegner. Und empfiehlt sich für den zweiten Wahlgang als der Kandidat der gesamten demokratischen Linken.

Premierminister Edouard Balladur hat seine Anhänger bis 21 Uhr warten lassen. Nur sein Sprecher hat prompt auf das schlechte Abschneiden Balladurs reagiert. Hauptverlierer dieses Wahlgangs, sagte er im Brustton der Empörung, seien die Meinungsforscher, die sich komplett geirrt hätten.

Im Balladur-QG haben die etwa zwanzigjährigen Unterstützer, die in ihren Maßanzügen und ihrer geschliffenen Ausdrucksform von Eliteschülern schon genauso alterslos wirken wie ihr Kandidat, und die älteren Damen mit den golddurchwirkten Blusen, die zur Balladur-Gefolgschaft gehören, längst das Buffet abgeräumt. Die frechen „Doudou-T-Shirts“ mit dem Schrifttyp der Coca-Cola- Werbung wirken deplaziert in dem Ambiente von Champagner, Schweiß und teuren Parfüms. „Edouard, Edouard!“ skandiert das Publikum, als Balladur endlich ans Podium tritt. Der unterlegene Kandidat guckt seine Unterstützer wütend an. Dann herrscht er den Saal an: „Hören Sie auf damit!“

„Ich werde alles tun, um zu verhindern, was 1981 und 1988 passiert ist“, verspricht Balladur in seiner knappen Ansprache. Dann fordert er zur Wahl Chiracs auf – desjenigen Mannes, vor dem er Tage zuvor als „gefährlichem Demagogen“ und als „Stabilitätsrisiko für Frankreich“ gewarnt hatte. Als Balladur den Saal verläßt, skandiert sein Publikum „Chirac, Chirac!“

Der Mann, den die französischen Meinungsforscher und Medien seit Wochen als den künftigen Präsidenten der Republik präsentieren, wartet bis in den späten Abend, bevor er spricht. Nach seinem knappen Abschneiden, nur 1,7 Prozent vor Balladur und 3,5 Prozent hinter Jospin, will Chirac erst wissen, wer ihn beim zweiten Wahlgang am 7. Mai stützen wird. Dann dankt er Balladur und ruft zur „Überwindung der Spaltung“ auf. Zum Ende jenes Streits innerhalb der Rechten, der den gesamten Wahlkampf bestimmt hat.

In seinem Zelt ist die Stimmung gedämpft geblieben. Der Berg mit den grünen, roten und gelben Äpfeln ist kaum geschrumpft, und als Chirac sich gegen 21.30 Uhr endlich sehen läßt, ist die Festgemeinde bereits übersichtlich geworden. Ihr Kandidat hat kaum besser abgeschnitten als bei seinen beiden vorausgegangenen Versuchen, Präsident zu werden. Seine Anhänger sind sich dennoch sicher, daß Chirac dieses Mal gewinnen wird. Die vereinte Rechte ist einfach stärker. Hoffen sie.