: Endlich wieder auf dem Malawi-See
Nach dem Abtritt seines despotischen „Präsidenten-auf-Lebenszeit“ Banda ringt Malawi, trotz enormer wirtschaftlicher und sozialer Probleme, um eine angemessene Vergangenheitsbewältigung und um politische Stabilität ■ Von Jack Mapanje
Als ich kürzlich – nach dreieinhalb Jahren Gefängnis und anschließenden vier Jahren Exil in Großbritannien – nach Malawi fuhr, tat ich etwas, das mir lange verwehrt war: Ich setzte mich in Cape Maclear in ein Boot und fuhr raus auf den Malawi-See.
David Rubadiri, Malawis berühmtester Dichter, Reformer und Kritiker und vor 33 Jahren Malawis erster Repräsentant bei den Vereinten Nationen, begleitete mich (Gerüchte sagen, daß ihm auch die neue Regierung diesen Posten wieder angeboten und daß er angenommen hat). Wegen seines Protests gegen Bandas repressives Regime hatte er Malawi schon in den sechziger Jahren verlassen müssen; mittlerweile wird er aufgrund seiner langen Zeit im Exil oft für einen Ostafrikaner gehalten – vor allem auch, weil er zur Entwicklung der ostafrikanischen Literaturszene so viel beigetragen hat.
Aber jetzt war Rubadiri nach Hause gekommen, und wir ließen uns von den Wellen des Malawi- Sees sanft wiegen. Mit Blick auf die sich weit hinter dem Blau des Sees auftürmende Bergkette scherzten wir über unsere Heimat, die wir so lange vermißt hatten. Gleichzeitig war uns aber durchaus bewußt, daß sich die autokratische Prägung des Landes und des Denkens seiner Menschen nicht so einfach würde aufheben lassen. Und daß beispielsweise der Geheimdienst des Ex-Präsidenten-auf-Lebenszeit, Banda, zum allergrößten Teil schlicht weiterexistiert. Aber wir waren beeindruckt von der Entschlossenheit der Menschen, hart zu arbeiten, damit Bandas langersehntes Verschwinden von der politischen Bühne auch den erhofften Erfolg zeigt.
Mittlerweile findet man allerorten Hinweise auf eine neue Kultur der Redefreiheit. Viele liberale Zeitungen sind entstanden, deren Zahl – nach einem ersten Aufschwung nach dem Referendum von 1992 und der Wahl von 1994 – jetzt allerdings langsam wieder abnimmt. An Imbißbuden und in Kneipen, auf Märkten und Busbahnhöfen überall hört man lautes Gelächter, und erst jetzt begreift man, wie frei Malawi ohne Banda wirklich geworden ist. Geschichten über Korruption, sogar schon unter den neuen Politikern, gibt es reichlich, aber das natürlich auch deshalb, weil eine unabhängige Presse über sie berichten kann. Mitunter kommen einem das Lachen und die Kritik an den Autoritäten des Landes schon fast verantwortungslos vor, aber beides ist ehrlich.
33 Jahre lang hatten wir diese Freiheiten nicht. Selbst die Touristen können sich jetzt an den Ufern des Malawi-Sees sonnen – ohne die vielen Aufpasser von früher. Alle wünschen dem neuen Malawi Glück – wenn auch mit einigen Zweifeln angesichts der enormen Probleme mit Wirtschaft, Gesundheitsvorsorge und Bildungsarbeit, vor denen die neue Regierung steht. Trotz finanzieller oder ideologischer Zwänge arbeitet die Regierung hart daran, Bandas Fehler zu korrigieren.
Überall entstehen Komitees, um all jene Probleme anzugehen, die Banda jahrelang ignorierte: es gibt Komitees zur Bekämpfung der Armut, zur Aids-Aufklärung, zum freiwilligen und obligatorischen Schulunterricht, für die kontrollierte Ausgabe von Dünger und Lebensmitteln während der derzeit extremen Trockenheit und Komitees zur Förderung der Kommunikation, der Verbesserung des Ideenaustauschs und des Gütertransports zwischen Stadt und Land. Überall schießen sie aus dem Boden, und ich habe sogar gehört, wie Regierungsbeamte sich ernsthaft Gedanken über die Demokratisierung so autokratischer Institutionen wie Bandas Polizei machten.
Projekte zum Schutz der neuen Verfassung und der Bürgerrechte sowie zur Verbesserung der Lebensqualität, besonders in den ländlichen Gebieten, bleiben nicht mehr wie früher nur in den Schubladen liegen und sind nicht mehr länger bloß die Tagträume einiger weniger. „Wenn nur endlich Regen käme und wir mehr Geld hätten, wir wären ein großartiges Land: das wahre, liebevolle Herz Afrikas!“ ist der typische Stoßseufzer in Malawi heute.
Bandas wirtschaftlicher Status, der sich in einem monopolartigen Press-Holding-Konglomerat spiegelt, ist derweil von der neuen demokratischen Kultur unberührt geblieben. In den Kneipen witzelt man, Malawi habe heutzutage zwei Regierungen: Bakili Muluzis politische, demokratisch gewählte und Banda-Tembos despotische, wirtschaftliche. Jeder weiß, wer wo bestimmt. Und alle haben Angst davor, was passiert, wenn auch weiterhin kein Regen fällt und das politische Glück uns verläßt. Wo das Gerede von der „Nationalisierung“ heute nur noch unannehmbare Erinnerungen an reale Sozialismen evoziert, wagt niemand vorzuschlagen, Muluzis demokratische Regierung müsse das wirtschaftliche Empire des Banda- Tembo-Monopols angreifen, um das Land ökonomisch vorwärtszubringen. Ich erinnere mich an ein spannendes Treffen mit Freunden und Kollegen an der Universität von Malawi. „Ich kann heute sogar eine Vorlesung über ,Nacktheit und Kunst' halten, ohne mich ständig ängstlich umgucken zu müssen“, hatte Berlings Kaunda, Malawis berühmtester Künstler, bei diesem Treffen gesagt.
Ich sehe noch die Kanus und Netze der Fischer von Cape Maclear vor mir, die im goldenen Licht des Abends nach Hause kommen. Rubadiri sammelt die Strandkinder von Maclear um sich. Sie treffen sich am Unterstand eines Fischerboots, der in Richtung Insel, in das weite Blau der Bucht zeigt. Rubadiri ist begeistert von den Erzählungen eines zwölfjährigen Mädchens, das jetzt das erste Mal am kostenlosen Unterricht der kleinen Dorfschule teilnehmen konnte. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Und ich pfeife ein Lied aus meiner Kindheit.
Aus der Entfernung finde ich es heute schwer, all die Veränderungen wirklich zu begreifen, die in so kurzer Zeit in Malawi stattgefunden haben. Die Geschwindigkeit, mit der die Ereignisse das Denken und die Perspektive der Menschen verändert haben, ist beeindruckend. Irgendwie komme ich da nicht mit und bin im Grunde immer noch vor allem von Bandas plötzlichem Abtritt begeistert. Aber wer heute in Malawi Politik macht, ist über mein Nachdenken aus der Ferne längst hinaus.
Dort ist man vor allem mit vier Themen beschäftigt: Mit der drohenden Möglichkeit einer Hexenjagd, wenn die Aktionen und Unterlassungen der Kongreßpartei in den letzten 33 Jahren vor Gericht verhandelt werden; mit der Frage, ob eine Versöhnung mit den früheren Unterdrückern überhaupt möglich ist und wie sie zustande kommen kann; mit der Frage, ob die kürzlich vorgenommene Verfassungsänderung der Regierung klug war, bei der das Amt eines zweiten Vizepräsidenten eingeführt wurde, damit sich alle drei Hauptregionen des Landes auf höchster Ebene politisch repräsentiert fühlen können; und mit dem, derzeit vielleicht größten Problem: der Korruption von Politikern.
Insofern ist Malawis Situation nur eine Variante der Erfahrungen, die Staaten mit einem neuen pluralistischen System machen. Man denke nur an Südafrika – und man sollte diesen Vergleich nicht scheuen. In Malawi wird derzeit viel diskutiert, schließlich gibt es viele Fragen: In welchem Maße wird die neue Regierung der Nationalen Einheit (ohne Kongreßpartei) sich an der Bestrafung derer beteiligen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben? Ist das vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver, das darüber hinaus nur Energien vom Geschäft des eigentlichen Regierens abzieht? Wie können wir uns mit unseren ehemaligen Unterdrückern versöhnen, wenn sie ihre Verbrechen einfach nur vergessen wollen, wenn sie leugnen, daß sie falsch gehandelt haben und keinerlei Reue zeigen? Wie lange wird die derzeitige Regierungskoalition halten? Und wie soll das fünfundzwanzigjährige Bestehen der Schriftstellervereinigung von Malawi – die zur neuen demokratischen Kultur so viel beigetragen hat – in diesem Jahr begangen werden?
Die Art und Weise der Auseinandersetzung mit diesen Fragen läßt vermuten, daß es wahrscheinlich keine Hexenjagd geben wird. Vielleicht kann ja doch eine vorsichtige, angemessene und Rekonstruktion aller Ereignisse gelingen, damit die in den letzten drei Jahrzehnten abgebrochenen Brücken neu geschlagen werden können. Eines jedenfalls ist deutlich: Niemand, nicht einmal die heutige Kongreßpartei, will die Ungerechtigkeiten der letzten 33 Jahre wiederholen.
Malawis Problem besteht darin, daß das ganze Land in einer Atmosphäre, wenn nicht sogar mit einer Kultur der Angst und der Lüge, des Mißtrauens und des Todes gelebt hat. Fast jeder Mensch in diesem Land hat direkt oder indirekt unter Banda leiden müssen. Bandas Despotismus scheint nur Tembos Neffen und Nichten, ihre Verwandten und Freunde, verschont zu haben. Wer noch Beweise braucht, sollte sich in irgendein malawisches Dorf begeben und fragen: „Wem wurde etwas weggenommen – Eier, Ziegen, Kühe, Geld, Läden etc.? In welcher Familie war jemand im Gefängnis, wurde mißhandelt, umgebracht, den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen, exiliert oder „verunglückte“?“ Es werden sich viele melden. Vielleicht Tausende.
Wir alle haben in Angst vor Banda und seinen vielen Schatten gelebt, die in seinem Namen verdächtigten, verhafteten und mordeten, und die nicht selten, ohne Wissen des Diktators, auch untereinander gewütet haben. Der Tod von vier Abgeordneten – Gegenstand der ersten Untersuchungskommission der neuen Regierung, deren Bericht vom Januar 1995 eindeutig auf Banda als Schuldigen hinweist – war nur eines von vielen solcher Ereignisse. In den vielen Gesprächen, die ich mit Menschen im ganzen Land führte, spekulierten viele Menschen mittlerweile ganz offen über die rätselhaften Tode vieler anderer: von Dunduzu Chisiza, Lawrence Makata, Yatuta Chisiza, Masauko Chimpembere und weiteren Menschen in den sechziger und siebziger Jahren; über die öffentliche Hinrichtung von Albert Muwalo, Silombera, Kanada; das Attentat auf Attati Mpakati in Simbabwe und den Bombenanschlag auf Mkwapatira Mhangos gesamte Familie in Sambia und weitere in Mosambik.
Die Menschen wagen inzwischen, über diese unerklärlichen Todesfälle von malawischen Bürgern in aller Welt zu sprechen. Daß diese unabhängigen Denker Helden sind – die die Banda-Leute gewöhnlich „Rebellen“ nannten und die gefangen, exiliert oder umgebracht – wird in der neuen demokratischen Kultur ohne Wenn und Aber öffentlich anerkannt. Eigentlich ist die politische Atmosphäre fast zu gut, um wahr zu sein. Aber das ökonomische Chaos der alten Regierung ist dagegen fast zu beängstigend, als daß es sich die neue Regierung jetzt leisten könnte, sich mit Hexenjagden zu beschäftigen. Banda und seinen Henkern – bisher etwa zwölf aus einer Bevölkerung von zehn Millionen – einen fairen Prozeß zu machen, ist wahrscheinlich die wichtigste Maßnahme für eine echte Versöhnung zwischen Unterdrückern und Unterdrückten.
Diese Prozesse müssen allerdings wirklich stattfinden. Und wer gelitten hat, muß Kompensation auf drei Ebenen erhalten: auf gesetzlicher, d.h. daß die Schuldigen vor ein unabhängiges Gericht gestellt werden; auf finanzieller, d.h. daß zur Verfügung stehende Gelder an die Familien Hunderter von Analphabeten auf dem Land gehen müssen, die unschuldig im Gefängnis saßen (dieses Geld sollte also nicht in die Taschen von Politikern fließen, die, durchaus zu Recht, erklären könnten, daß auch sie gelitten haben); und auf einer psychologischen Ebene, d.h. daß die Schuldigen ihre Schuld privat oder öffentlich eingestehen müssen.
Den Täter zum Eingeständnis seiner Schuld zu bringen, ohne daß darauf unbedingt Sanktionen folgen, wird vielen Menschen, denen Unrecht geschehen ist, als Wiedergutmachung vielleicht sogar genügen. In jedem Fall muß dem Gesetz ohne Rachegedanken und bösen Willen Geltung verschafft werden. Der Unterdrücker muß spüren, daß sein Opfer ihm vergeben hat, und das kann nur geschehen, wenn Recht gesprochen wird ohne Bosheit. Der Unterdrückte dagegen muß spüren, daß er für die erlittene Ungerechtigkeit wirklich Kompensation erhalten hat – indem der ehemalige Unterdrücker in irgendeiner Form Konzessionen macht oder eine Sühne erbringt. In anderen Worten: sowohl Unterdrücker als Unterdrückte müssen die Versöhnung wirklich erleben. Wenn das nicht geschieht, werden beide Seiten ihr eigenes Verhalten endlos rechtfertigen. Es kann keine dauerhafte Wiedergutmachung geben, wenn wir uns nicht angemessen miteinander versöhnt fühlen, wie demokratisch die neue Kultur sonst auch ist.
Die Diskussion über den besten Weg, sich aus Bandas autokratischer Prägung zu lösen, geht weiter. Genauer: sie hat gerade erst begonnen. Was den barbarischen Mord an den vier Abgeordneten betrifft, so hoffen wir, daß jenseits des konkreten Ergebnisses die neue Haltung klar und deutlich zeigt, daß politische Differenzen nie mehr durch die Eliminierung der Gegenseite gelöst werden dürfen. Malawi scheint mit seiner neuen Demokratie zu einer guten Herausforderung in Afrika zu werden. Und wir wollen hoffen, daß die Begeisterung darüber ohne häßliche persönliche Hahnenkämpfe auskommt.
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