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Algerische Krankheit oder Medizin?

Seit mehr als drei Jahren herrscht in Algerien Bürgerkrieg / Längst ist auch die Armee, Nachfolgerin der nationalen Befreiungstruppen gegen die Kolonialmacht Frankreich, zur Belastung geworden  ■ Aus Algier Kadir Bouabied

Dampfend steht das Essen auf dem Tisch, aber mit der Mahlzeit kann noch nicht begonnen werden. „Entschuldigen Sie bitte“, erläutert Safia, mein Mann wird gleich zurückkommen.“ Der nämlich ist losgezogen, um den wichtigsten Bestandteil eines arabischen Menüs zu besorgen: Brot. Bis vor kurzem hatte er es bei einem Bäcker um die Ecke gekauft, doch der ist seit einigen Wochen verschwunden, der Laden verbarrikadiert.

„Einige Leute haben behauptet, er würde mehr Brot backen, als er hier verkaufen könne“, erzählt Safia. Das hätten die Militärs mitbekommen, und für die war die Angelegenheit klar: „Eines Tages haben Soldaten sein Geschäft umstellt und den Bäcker verhaftet. Angeblich hat er Brot an Islamisten in den Bergen geliefert.“

„Al-Askar“ (Das Militär) – das Wort genügt, um AlgerierInnen schaudern zu lassen. Die verschärften Maßnahmen der Soldaten gegen IslamistInnen und ihre angeblichen SympathisantInnen in den letzten Wochen haben die Angst steigen lassen. Luftangriffe gegen Stellungen der in den Bergen ausharrenden Militanten und Massenverhaftungen in den Städten gehören zum Alltag. Die Angst hat Eingang in den Sprachgebrauch gefunden. „Gott sei gedankt, daß du noch unter den Lebenden bist“, lautet eine Begrüßungsformel.

„Das Regime setzt alles daran, gefürchtet zu werden“, erläutert Dschamal, ein Journalist. Die Verschärfung der Lage in den letzten Wochen zeige, daß zumindest Teile der Armeeführung beschlossen hätten, den IslamistInnen einen vernichtenden Schlag zu bereiten. Isti'saliin oder französisch éradicateures (Ausrotter) werden in Algerien jene Militärs genannt, die die vollständige Vernichtung der IslamistInnen propagieren.

„Die Generäle wollen sicherstellen, daß sie bei einer wie auch immer gearteten Lösung an der Macht bleiben“, erklärt Dschamal. Des weiteren ginge es ihnen darum, zu verhindern, „daß in Zukunft ihre alten Akten geöffnet werden“. Von Militärs zu verantwortende Grausamkeiten dürften auch in Zukunft nicht an die Öffentlichkeit geraten. Nach Ansicht des Journalisten führten solche Forderungen dazu, daß bisher alle Verhandlungen zwischen dem Regime und der Opposition scheiterten. Durch Brutalität wollten die Militärs signalisieren, daß sie die Zügel fest in der Hand hätten, vermuten VertreterInnen der legalen Oppositionsparteien. Viele AlgerierInnen beobachten das Vorgehen der Soldaten mit zwiespältigen Gefühlen.

Zu der Angst gesellen sich Zweifel, ob das Militär nun die „algerische Krankheit“ ist oder die „Medizin“ dagegen. „Wenn ich Soldaten sehe, habe ich gemischte Gefühle“, sagt Bahia. Zwar seien Militärs dafür verantwortlich, „daß sich unser Land selbst zerfleischt“, meint die 40jährige Professorin, doch sei „die Armee die einzige Kraft, die die algerische Einheit bewahren kann“. Für Bahia sind die Soldaten „unsere Söhne und Brüder“, das algerische Militär der „Sproß“ jener Befreiungsarmee, die 1962 die französischen Kolonialherren besiegte. Eine Million Opfer habe die AlgerierInnen damals der Befreiungskrieg gekostet, und jetzt beobachtet Bahia, wie wieder Tausende algerische Soldaten sterben, „als Kanonenfutter in einem barbarischen Krieg“. Dieser nutze nur der „Mafia der 10, 15 und 20 Prozent“. Mit der Bezeichnung ist eine Gruppe mächtiger Generäle gemeint, die Prozentzahlen stehen für Provisionen, die sie angeblich von ausländischen Geschäftspartnern erhalten.

„Das Verhältnis der algerischen Armee zum Staat ist etwas Besonderes“, erklärt Dschamal, der Journalist. „Normalerweise gründet ein Staat seine Armee, aber in Algerien hat die Armee den Staat gegründet.“ Bereits kurz nach der 1962 erreichten Unabhängigkeit brach in Algerien Streit zwischen den „Kämpfern“ und den „Politikern“ aus. 1965 übernahmen die Militärs die Macht. Durch einen Putsch wurde Verteidigungsminister Houari Boumedienne Staatschef. Im Verlauf seiner 14jährigen Amtszeit wurden die Militärs zu den eigentlichen Machthabern.

„Seit den ersten Tagen der Unabhängigkeit entstanden in der Armee mehrere Machtzentren“, erklärt ein ehemaliger Funktionär der „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN), jener Partei, die Algerien bis 1991 als Einheitspartei regierte. „Einige Zentren bildeten sich nach der Herkunft von Offizieren“, erzählt er. Der folgenschwerste Konflikt habe aber zwischen den Offizieren der sogenannten 'Urubiin und denen der Partie de la France bestanden. Erstere forderten die Arabisierung Algeriens und ein sozialistisches Staatskonzept, die zweiten hatten ihre Ausbildung zumeist in der französischen Armee erhalten und standen für eine enge Anbindung des Landes an den Westen und die ehemalige Kolonialmacht.

Boumediennes Nachfolger, der 1979 angetretene Chadli Benjedid, sei ein Kompromißkandidat der verschiedenen Machtgruppen gewesen, erläutert der ergraute FLN- Kader. Unter Benjedids Herrschaft habe die Infitah begonnen, jene Öffnung zum Westen, von der eine „politische und wirtschaftliche Mafia“ profitiert habe, eine Gruppe „machthungriger Generäle, korrupter Politiker und gieriger Geschäftsleute“, die das Land heruntergewirtschaftet hätten.

Als sich als Folge dieser Politik 1988 Teile der Bevölkerung gegen die Erhöhung der Brotpreise erhoben und die Islamische Heilsfront (FIS) entstand, reagierten die Militärs erschrocken. Einige Generäle forderten, das Problem auf militärische Weise zu lösen. Benjedid war für einen Kompromiß mit den IslamistInnen. Die FIS könnte mit einer starken Fraktion in das Parlament einziehen und er als Präsident im Amt bleiben, spekulierte Benjedid und entschloß sich, die ersten freien Parlamentswahlen Algeriens abhalten zu lassen.

Benjedids Berater hatten den IslamistInnen einen maximalen Stimmenanteil von 30 Prozent prognostiziert. Als sich jedoch nach dem ersten Wahlgang im Dezember 1991 eine deutliche Mehrheit für die FIS abzeichnete, nahmen sich die Falken unter den Militärs der Sache an. Der zweite Wahlgang wurde abgesagt, die FIS verboten und Benjedid zum Rücktritt gezwungen. Die IslamistInnen begannen den bewaffneten Kampf.

„Wir stecken in einem Dilemma“, meint Kadir, ein Offizier mittleren Ranges. Seit IslamistInnen Jagd auf Uniformierte machen, hat er sein Zuhause gegen zwei ärmlich eingerichtete Zimmer eingetauscht. Seine Familie versteckt sich an einem anderen Ort. Kadir schätzt, daß „die Mehrheit der einfachen Soldaten und der Unteroffiziere für einen Dialog mit den IslamistInnen ist“. Sie wollten nicht in einem sinnlosen Krieg geopfert werden. Da die Führungsspitze des Militärs jedoch jeden Kompromiß ablehnt, bliebe ihnen nur Meuterei. Ein erfolgreicher Aufstand würde jedoch unweigerlich „zum Zusammenbruch der Armee und zur Somalisierung Algeriens“ führen.

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