Was ziehe ich an? Was zieht mich an?

Wo sich T-Shirts schon auf der Stange beißen / Der Modedschungel Berlin  ■ Von Wolfgang Farkas

Alle lästern über Berlin und die Berliner: In der größten Baugrube der Welt hängen ausgeleierte Jogginghosen zwischen den Knien, und noch immer glänzen Leggins, was das Zeug hält. Berliner Schick, comme il faut! Gibt's hier tatsächlich nichts anderes? Ein Neuberliner streift durch den Geschäftedschungel, in einem Laden haben wir nachgefragt, warum die Mode so häßlich ist.

Wer von Kopf bis Fuß gut angezogen sein will, braucht vor allem zwei Dinge: leuchtendweiße Zähne und einfache schwarze Schuhe. Doch das allgemeine Augenmerk richtet sich vor allem auf das, was dazwischen liegt. Wir nennen den Traum, sich kunstvoll zu verhüllen und sich geschickt zu verjüngen, Mode – und schon beginnt eines der größeren Alltagsprobleme. Was ziehe ich an? Was zieht mich an? Ein Streifzug durch die immer unübersichtlicher werdende Trendstadt.

Was gestern in war, kann heute schon mega-in sein. Im Wicked Garden (Grunewaldstraße 71, Schöneberg) zum Beispiel ist großes Disco-Revival. Die Kleider sind bunt und strahlen Glamour aus, das Motto heißt: auffallen um jeden Preis. Für eine silbergraue Nylonhose von Helmut Lang legt man einen Tausender hin und bekommt nur eine Mark zurück. Der heißeste Tip für Männer aber: Wickelröcke. Das Modell von '3000‘ ist mit 173 Mark relativ preisgünstig. Die passende Ergänzung dazu wäre eine Satin-Steppjacke von Jessica Odgen für 419 Mark. Frauen dagegen fahren laut Ladenhüterin Katharina verstärkt auf den in Paris lebenden senegalesischen Designer Xuly Bet ab. Ob bei „tiny Dingern“ wie einem Top (119 Mark) oder einem einfachen Stretchkleid (219 Mark) – wichtig ist, daß das Label des Machers plus „Funkin Club“-Schriftzug gut sichtbar ist. Wer es schlichter will und dennoch eine Vorliebe für Exzentrisches beweisen möchte, greift zur Military-Collection des Berliner Philip-Morris-Preisträgers Next G. U. R. U. Now (Jacke 389 Mark) oder zum galaktisch schwarzen Anzug mit dem unauffälligen Oberarmschriftzug „Beam me up Scotty“. Hochhackige Schuhe von Patrick Cox in Glitterrosa (239 Mark), for women only, runden das Angebot ab.

Jede Menge abgefahrene Fummel bietet auch Groupie de Luxe (Goltzstraße 39). Hier ist Mode ein Gesamtkunstwerk, mit Kaffeebar und einer Galerie im hinteren Teil des Ladens, und wer nichts kaufen möchte, trifft sich hier, um den neuesten Szeneklatsch auszutauschen. Tank-Girl-T-Shirts oder Mini-Lacktaschen mit der Aufschrift „action girl“ oder „babe power“ künden noch immer vom Girlie-Kult. Der Trend geht aber gleichzeitig zu klassischeren Sachen. „Was zur Zeit am meisten gefragt ist“, sagt Besitzer Frank Mahr, „sind Nadelstreifen- und vor allem Carohosen (169 Mark, Stupid) und entsprechende Anzüge (450 Mark).“ Im Sortiment von Groupie finden sich außerdem ganz gewöhnliche weiße Baumwollhemden (99 Mark), die man in Streetwear-Läden sonst oft vergeblich sucht, sowie frisch eingeflogene, schlichte Bikinis und Hot Pants aus Brasilien. „Hier kaufen eben nicht nur Szene-Leute ein, sondern auch mal die Rechtsanwältin von nebenan“, sagt Mahr. Sein Konzept: Klamotten anbieten, die man nachts in Tanzclubs genauso tragen kann wie tagsüber auf der Straße.

Bei einem richtigen Streifzug darf natürlich auch ein Blick auf den Wühltisch von Woolworth nicht fehlen. Neue Trends auch hier? Nein. Die Herrenslips sind unaufdringlich schwarz (3er Pack, 6 Mark), klassisch die Baumwoll- T-Shirts (in allen Farben, 3,95 Mark) und auch wenig Innovatives bei den Damenröcken (geblümt, 19,95 Mark).

Nächste Station: die Bergmannstraße in Kreuzberg, seit jeher für gute Angebote im Secondhand- Bereich bekannt. Zum Beispiel der Treibstoff, seit 15 Jahren im Wettbewerb. Draußen hängen Ripp-T- Shirts, ab 15 Mark, das geht in Ordnung. Im Laden selbst dominiert vor allem das, was jedes Schülerherz begehrt: die immer noch gefragten Kapuzenshirts und der Dauerbrenner unter den Rennern, Cordhosen (mit Schlag 79 Mark, ohne 69 Mark). Billig und trotzdem freakig ist ein paar Meter weiter das Barbarella, wo es schön gearbeitete Samtshirts ab 59 Mark gibt, aber auch Techno-Klamotten, Schuhe und Schmuck aus eigener Werkstatt. Erst seit einigen Wochen gibt es das Goya, das mit seinem minimalistischen Angebot die etwas Betuchteren anspricht. Etwa mit einem Schurwollanzug, wie ihn Michel Piccoli gerne trägt (498 Mark). Der mit Abstand durchgeknallteste Shop ist Plaste und Elaste. Ob rote Lackhosen, Stiefel mit Totenkopfschnallen oder Anzüge aus der Weltraumforschung: auf eine Linie kommt es nicht an, Hauptsache anders. „Wir sind der Mode immer ein Jahr voraus“, meint der Besitzer, der sofort an Spionage denkt, wenn er einen Schreibblock sieht: „Notizen kann ich aus Wettbewerbsgründen nicht dulden. Die anderen schauen mir alles ab.“ Szenenwechsel. Kreuzberg, Schönleinstraße. Scenario. Clubmode, Plattenladen, Schultaschen. Die T-Shirts beißen sich schon auf der Stange: pink (Design: Kim Gordon von Sonic Youth) mit orange (Design: Mike D. von den Beastie Boys). Einen Trend zu japanischem Plüschkram will hier der Verkäufer außerdem ausgemacht haben.

Die wahre Entdeckung an diesem Nachmittag befindet sich im Ostteil der Stadt, Humana am Alexanderplatz. Die Secondhand- Kette ist ein Dritte-Welt-Projekt; ein Teil der Humana-Kleidersammlungen geht nach Afrika, der Rest wird hier verkauft. Der Rest, das sind in der größten der bald acht Filialen 14.000 Kleiderstücke. Was es hier gibt? Alles. Deshalb kaufen hier nicht nur Leute ein, die sich nichts anderes leisten können, sondern auch die, die etwas Besonderes finden wollen – das, was andere eben nicht haben. Als hip gelten hier vor allem die Einzelstücke aus den 70ern, alles, was grell ist und einen Schlag hat. Darüber hinaus sind besonders Naturfarben und -stoffe begehrt, Kleider aus Leinen, Seide und Baumwolle. Das Teuerste, was bei Humana jemals verkauft wurde, war ein Pelz für 400 Mark. Auch Lederjacken kosten schon einmal bis zu 300 Mark. Aber das meiste liegt (deutlich) unter 50 Mark. Denn Humana setzt automatisch alle Klamotten, die zwei Wochen lang nicht verkauft wurden, um 10 Mark herunter. Also kostet zum Beispiel das Hochzeitskleid statt ursprünglich 138 Mark jetzt nur noch 98 Mark.

Nach welchen Kriterien sortiert Humana Kleidung aus den Sammelboxen für die Erste und für die Dritte Welt? Kleider, die entweder noch ganz aktuell oder aber eigentlich schon längst aus der Mode sind, werden den Berlinern angeboten. Aber das Boss-Hemd, das vor vier Jahren noch modisch war, will in Deutschland keiner mehr tragen – also kommt es nach Afrika. Insofern wäre es nicht weiter verwunderlich, wenn die arme Bevölkerung in Mosambik demnächst in Adidas-Anzügen herumlaufen würde. Die sind hier einfach out. Trend ist eben nur ein kurzatmiges Wort, das nach zwei Buchstaben am Ende ist.