■ Zum Aufruf, kein Staatsmann solle am 9. Mai nach Moskau: Die Impotenz der Öffentlichkeit
Ich muß gestehen, daß ich nicht mehr verstehe, was Öffentlichkeit ist. In bezug auf den Krieg in Tschetschenien gleitet sie immer mehr in die Position eines Fürstenberaters ab, der dem Fürsten eine Bittschrift schickt in der Hoffnung, er würde die moralische Empörung der Untertanen in seiner Politik schon berücksichtigen. Zugleich bedient die urbi et orbi verkündete Solidarität mit den Ausgerotteten der Aufwertung der eigenen liberalen Identität. Leben wir etwa in einer Monarchie, oder wie sieht der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ nun aus? In diktatorischen Regimen wie einst in der Sowjetunion und heute in Iran hat die Intelligenzija de facto keine andere Möglichkeit, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen, als kollektive Briefe zu schreiben. In der Demokratie kostet der Aufruf „aller französischer Intellektueller“ unter Führung von Daniel Cohn-Bendit nicht mehr als ein Telefongespräch mit den Gleichgesinnten. Keiner weiß besser als Lew Kopelew, was er aufs Spiel setzte, als er gegen die Verhaftung Solschenizyns protestierte; hierzulande wirken seine Aufrufe nur wie hilflose moralische Gesten.
Ist es wirklich die Sache der Öffentlichkeit, sich mit der Beratung der Regierungschefs zu begnügen? Eine erstaunliche Bescheidenheit. Seit der ersten Bombardierung von Grosny sind fünf Monate vergangen. Es wurde keine einzige Protestaktion, keine Demonstration vor der russischen Botschaft organisiert, nicht einmal in dem Ausmaß, in dem gegen die Intervention der Türkei in Nordirak reagiert wurde. Bezeichnend ist indes, daß das schlechte Gewissen immer nur im Zusammenhang mit historischen Daten erwacht, als ob wir zu nichts mehr fähig wären als zu mahnen und zu trauern.
Der Erinnerung an die russischen Opfer des Zweiten Weltkrieges fügt es besonderen Schaden zu, daß Jelzin gerade zum 50. Jahrestag des Sieges eine stalinistische Strafaktion gegen das 1911 schon einmal kollektiv deportierte Volk begann. Schlimmer hätte man die Ergebnisse der Befreiung vom Faschismus nicht in Frage stellen können. Die historischen Konstellationen mögen unserer Analyse lediglich Glaubwürdigkeit verleihen. Sie sind aber ungeeignete Mittel, um gegen die konkreten Verletzungen der Menschenrechte, gegen die Verbrechen an der Zivilbevölkerung zu protestieren.
Mir ist ziemlich egal, ob Kohl nach Moskau fährt oder nicht. Das ist letztendlich die Sache der Koalitionsregierung. Was mich beunruhigt, ist die Impotenz der Öffentlichkeit, die sich mit der Rolle eines ungebetenen Beraters der Macht zufriedengibt. Sonja Margolina
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