Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei

Den zwanzigsten Jahrestag des Kriegsendes in Vietnam feiern die Kinder der hohen Funktionäre und neuen Reichen von Hanoi auf ihre Weise: Wetten auf Todesrennen mit schweren Motorrädern  ■ Aus Hanoi Robin Meyers

Die Türen öffnen sich und ein Schwall eiskalter Luft strömt uns aus dem weißgekalkten Elektrolux-Showroom entgegen. Tiefkühltruhen, Staubsauger, Einbauküchen, Kühlschränke, Waschmaschinen und alles, was die moderne Hausfrau im alltäglichen Leben braucht, stehen hier aufgereiht wie in einer modernen Kunstausstellung. Yen ist begeistert: „Elektrolux ist viel besser als die japanischen Marken, die es schon lange in Hanoi gibt“, bestärkt sie sich in ihrer Überzeugung, daß für das neugebaute Eigenheim am Stadtrand das Modernste und Teuerste gerade gut genug ist.

Yen und ihr Ehemann haben Geld – noch, denn der Hausbau hat bisher 70.000 US-Dollar gekostet, und jetzt müssen Möbel gekauft werden. Sieben Jahre nach der Öffnung Vietnams zu internationalem Kapital und ein Jahr nach der Aufhebung des US-initiierten Wirtschaftsembargos schwelgt Hanoi im Konsumrausch.

Yen kommt aus einer einflußreichen Familie, hat einen Hochschulabschluß und arbeitet für umgerechnet 22 US-Dollar im Monat halbtags an einem staatlichen Institut. Das gesamte Geld für den Hausbau haben sich Yen und ihr Ehemann in weniger als fünf Jahren selbst erspart, das schwarz verdiente Geld in Dollarnoten und Gold unter der Matratze versteckt.

Yens Ehemann ist Kunstmaler, und zum materiellen Wohle seiner Familie malt er, was der Markt verlangt. Diplomaten, Touristen, Geschäftsleute, reiche Vietnamesen: Alle wollen sie ihre Eitelkeit geschmückt sehen und kaufen vietnamesische Kunst – deren relativ niedrige Preise wohl manchmal attraktiver sind als die Bilder selbst.

In Hanoi scheint jede zweite Familie genügend Geld zum Neu- oder Anbau gespart zu haben. Oft jedoch täuscht die Pracht der neuen Gebäude über den tatsächlichen Wohlstand der Eigentümer, deren gesamte Verwandtschaft in das Projekt investiert hat. Ein Gürtel geräumiger Eigenheime beginnt sich um die Stadtmitte Hanois zu schlingen. Die Angst vor der weniger begüterten Nachbarschaft kann nur die Anschaffung von mehreren Wachhunden mildern. Eingeschlossen in ihre Luxusburgen hoffen die stolzen Besitzer, daß auch die armen Nachbarn bald der Geldgier nachgeben und ihre Grundstücke an schnell reich gewordene Landsleute verkaufen. Wen kümmert da schon – angesichts dieser Sorgen – der 20. Jahrestag des Kriegsendes?

„Born to be wild“ – in Hanoi

Yens Kleinfamilie hat sich an einen Lebensstandard gewöhnt, der sie monatlich nahezu 1.000 US-Dollar kostet – von den Baukosten abgesehen. Eine stattliche Summe, selbst in Hanoi, wo eine vierköpfige Familie durchschnittlich 100 US-Dollar zum Überleben benötigt. Alles andere, und das heißt auch Schulgebühren für die Kinder, Geld für Krankheitsfälle, Kleidung und Transportmittel, müssen extra verdient werden.

Die drastische Umorientierung der Wirtschaft hat in kürzester Zeit eine neue Sozialordnung geschaffen, deren Werte in Gold und US- Dollar gemessen werden. Aber trotz der rapiden Hierarchisierung macht sich kaum Unmut laut – vertraut frau/man doch lieber dem eigenen Geschäftssinn als den Launen eines Staates, dessen Fehlplanungen noch in sehr naher und allzu schlechter Erinnerung sind.

Subversion kommt aus einem ganz unvermuteten Lager – von den gelangweilten Kindern der Neureichen und Parteibonzen. An Wochenenden und zum Anlaß staatlicher Feiertage rasen sie auf brandneuen schweren Motorrädern mit durchschnittenen Bremskabeln durch die Stadt, spät nachts, neuerdings aber auch tagsüber im dichten Stadtverkehr. Der Reiz liegt nicht nur in der Todesgefahr, sondern mehr noch in der Illegalität und dem Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Die Spielregeln sind nicht ganz fair, denn selbst wenn die jugendlichen Übeltäter geschnappt werden, gehen sie dank einflußreicher Eltern meist straffrei aus.

Besonders gut besucht sind die urbanen Gladiatorenkämpfe an Feiertagen, die fast ausschließlich auf glorreiche Revolutionsjubiläen oder Siegesdaten der Volksarmee fallen. Viel Geld wird gewettet auf die waghalsigen Todesfahrer mit ihren „Born to be wild“-Paraphernalien. Auch morgen nacht, zum 20. Jahrestag der „Befreiung Saigons“, rechnet man mit mehreren hundert Schaulustigen in der freudigen Erwartung eines besonders spektakulären Rennens – der Bedeutung des Jahrestages angemessen. Hauptattraktion sind dabei schon lange nicht mehr die Todesfahrer allein, sondern das Muskelmessen mit der Staatsgewalt.