: Evas Verführung: Sixpack statt Apfel
Drogen und Sucht – eine taz-Serie. Teil 2: Alkohol / Die Deutschen liegen im Alkoholverbrauch weltweit an erster Stelle / Manchmal fängt es mit den Likörflaschen zum Geburtstag an ■ Von Peter Lerch
Herbert sitzt schon morgens um zehn auf dem U-Bahnhof Platz der Luftbrücke und schlürft Billigbier. Die Halbliterdose zu 69 Pfennigen. Stoppelbärtig und rotgesichtig, hat er im Verlauf seiner Trinkexzesse bei Stürzen so viele Schrammen und Narben im Gesicht eingesammelt, daß er sich daran gewöhnt hat, sie als Muttermale zu betrachten. Schuld daran ist das Weib, die ewige Eva, als Sinnbild der Ursünde, die den Trinker statt mit einem Apfel mit Sixpacks verführt habe, behauptet er.
Zehn Jahre ist das nun her. „Damals hab' ich nur Nescafé getrunken. Dann kam immer die Freundin von meinem Kumpel mit einem Sechserträger vorbei. Da hab' ich halt mitgesoffen“, erzählt er launig. Als sie irgendwann nicht mehr kam, hat er die Angewohnheit als Solist weiter gepflegt. „Früher waren es zehn kleine Dosen am Tag, heute mach' ich zehn große weg“, sagt er zwischen zwei Schlucken und läßt eine Selbstgedrehte zwischen seinen nikotingelben Fingern abbrennen.
Der 40jährige Sozialhilfeempfänger hat zwei Entziehungskuren hinter sich. Vor vier Jahren hatte er es geschafft, drei Wochen lang im Wenkenbach-Krankenhaus auf der Station 5 der neurologischen Abteilung bierlos auszuharren. Aber als er die Entgiftungsstätte wieder verließ, war die Sehnsucht nach der Gerstenkaltschale größer als sein Wille zum Widerstand. Und so saß er schon bald wieder mit seinen Halbliterbüchsen auf dem U-Bahnhof rum, um den Reisenden in Richtung Tegel nachzugucken.
„Was soll ich denn sonst machen? Ich muß immerzu an meine Kleene denken“, sagt er und wird plötzlich weinerlich. Im vergangenen Sommer hat sich seine Freundin in der gemeinsamen Wohnung eine Überdosis Heroin verpaßt, während er seinen Bierrausch ausschnarchte. Seitdem nimmt er manchmal zusätzlich noch Psychopharmaka. Sonst hat sich an seinem Leben nicht viel geändert.
Ein weiterer Versuch, vom Suff loszukommen, scheiterte allerdings bereits nach 24 Stunden. „Aber nur, weil ich nicht rauchen durfte. Sonst wär' ich dageblieben“, versichert er im Brustton bierseligen Selbstvertrauens. Seine damaligen Entzugssymptome beschreibt er als verhältnismäßig milde. Ekelhafte Kopfschmerzen habe er gehabt und unter Schlaflosigkeit gelitten. „Keine Halluzinationen oder so was. Ich trinke ja keine harten Sachen.
Schnaps vertrag' ich nicht, da dreh' ich immer durch und weiß nicht mehr, was ich mache. Wenn ich dann morgens aufwache, ist die ganze Wohnung verwüstet.“ Erst kürzlich hat er seit langem wieder mal ein Fläschchen Schnaps getrunken. Drei Wochen lang lag seine halbverkohlte Matratze auf der Grünfläche vor der Wohnanlage, weil er dabei mit der Zigarette in der Hand eingeschlafen ist. Als Herbert durch die Gluthitze wach wurde, schaffte er es gerade noch, die brennende Matratze aus dem Fenster zu werfen. Trinkerschicksal. Eins von Hunderttausenden.
Bis vor einigen Jahren waren die Franzosen die Champions der feuchten Seele. Doch mittlerweile führt Deutschland die Weltrangliste im Pro-Kopf-Verbrauch an Alkoholika an. Der Suff zieht sich durch alle Altersschichten, geht quer durch die Geschlechter und kennt weder Klassen- noch Rassenunterschiede. Ob in Eckkneipen oder heimlich, still und leise: Auf deutschem Boden wird gebechert was das Zeug hält.
Nur selten ist der Alkoholmißbrauch derart offensichtlich wie bei Herbert. Die Erscheinungsformen des Alkoholismus reichen vom Quartalsäufer, der sich alle paar Wochen bis zum Umfallen abfüllt, über den sogenannten kontrollierten Trinker, der regelmäßig abends zu saufen anfängt, bis hin zum Schwerstalkoholiker, der nachts nicht durchschlafen kann, wenn er nicht zwischendurch einen Hieb aus der Schnapsflasche nimmt und morgens das trockene Kotzen kriegt.
Rein statistisch gesehen trinkt jeder Deutsche über zwölf Liter reinen Alkohol pro Jahr. Bei wieviel tausend Trunkenbolden Alkoholismus die klammheimliche Todesursache ist, weiß nur der Liebe Gott oder der Gerichtsmediziner, wenn er die schwammförmige Zirrhose-Leber auf dem Seziertisch angucken kann. Experten gehen aber davon aus, daß in der Bundesrepublik jährlich mindestens 40.000 Menschen an den mittelbaren und unmittelbaren Folgen des Alkoholkonsums sterben.
Agnes H. ist 61 und Frührentnerin. Bei ihr entwickelte sich der Hang zum exzessiven Flaschenleeren anders. „Ich hatte zum Geburtstag und Weihnachten so viele Flaschen mit Schnaps und Likör geschenkt bekommen, daß ich gar nicht mehr wußte, was ich damit machen sollte. Mein Mann ist den ganzen Tag auf Arbeit und ich hatte einfach Langeweile. Da hab' ich mir halt öfter einen eingeschenkt“, erzählt sie. Die ältere Dame mit den Ringen unter den Augen sieht jetzt noch ganz fertig aus. Sie ist zur Entgiftung in der psychiatrisch-neurologischen Abteilung eines Berliner Krankenhauses gelandet, nachdem sie in hilflosem Zustand in einem Park zusammengebrochen war.
Innerhalb weniger Monate hatte sich ihr Alkoholkonsum derart rasant gesteigert, daß sie am Schluß täglich eine Flasche Branntwein brauchte, um nicht zu „klappern“. Am Tag nach ihrer Einlieferung kollabierte sie unter epilepsieartigen Anfällen, so daß ihr die Ärzte Distraneurin geben mußten, ein Medikament, das die Entzugssymptome von Schwerstabhängigen lindert. Auf der Entzugsstation erholt sie sich nun, während sie gleichzeitig Gelegenheit bekommt, an Treffen verschiedener Gruppen abstinenter Selbsthilfeorganisationen teilzunehmen.
Anders als bei Heroinsüchtigen gibt es nur wenige Therapieeinrichtungen, die Langzeitbehandlungen durchführen. Dafür gibt es ein breites Netz kirchlicher und weltlicher Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker oder die Guttempler, in denen sich die „trockenen“ Alkis gegenseitig ihre gruseligen Erfahrungen mit dem Ethanolwässerchen erzählen können. Nach einer zwei- bis dreiwöchigen Entgiftung reichen derartige Redegruppen meistens aus, den Abstinenzwilligen von der Flasche fern zu halten. Manchmal auch nicht.
„Der Süchtige geht durch die Hölle. Ihr zu entkommen, schafft er nur aus der eigenen Kraft“, lautet das Motto von Wolfram Page, dem Gründer der Alkoholiker- Selbsthilfevereinigung Almedro International e.V., in der Leute mehrere Jahre leben können. Zwar steht der Name für Alkohol, Medikamente und Drogen, aber Schwerpunkt der Selbsthilfegruppe sind und bleiben die Alkis. Als der 43jährige Wolfram Page den Verein im Februar 1990 mit zwei trockenen Alkoholikern gründete, hatte er nur ein Ziel: Anderen Süchtigen dabei zu helfen, das Leben ohne Suchtmittel zu erlernen.
Das gemeinsame Leben und Arbeiten von zunächst 24 trockenen oder clean gewordenen Süchtigen wurde möglich, als der Verein im Juli 1990 in der Herkomer Straße in Treptow das Almedro- Haus eröffnen konnte. Seitdem ging es mit der ersten Selbsthilfeeinrichtung im Ostteil der Stadt immer weiter voran. Zu dem Treptower Haus kam bald ein Bauernhof, der heute weiteren zehn Süchtigen trockene Lebensumstände bietet. Die Betroffenen können Tag und Nacht im Haus um Aufnahme bitten. Es gibt keine Therapeuten und Psychologen, sondern nur Betroffene. Die Grundregeln des Zusammenlebens sind einfach: Keine Drogen und keine Gewalt.
Die Bewohner der Almedro- Projekte sind bestrebt, sich selbst zu finanzieren. So werden Transporte, Umzüge, Entrümpelungen, aber auch Maler- und Fliesenlegerarbeiten von den Almedro-Mitarbeitern durchgeführt. „Du schaffst es nur allein, aber allein schaffst du es nicht“, lautet die Grundthese der erfahrenen Ex-Trinker, die sich mehr oder minder mühselig von Abstinenztag zu Abstinenztag durchschlagen und dabei ein suchtfreies Leben erlernen.
Denn die Regale mit Alkohol in den Supermärkten sind voll und werden immer länger. Selbst die exotischste Fuselvariante, das ausgefallenste Bier wandern als Launemacher in die deutschen Haushalte. Doch in welcher Form und welchem Geschmack der Sprit auch daherkommt, fest steht, daß er eines der gefährlichsten Suchtgifte überhaupt darstellt.
Schwer verständlich, warum es innerhalb unserer Gesellschaft so unterschiedliche Gewichtung in der Bewertung der Drogenproblematik gibt. Auf der einen Seite hält der Bürger sogenannte harte Drogen und ihre Händler für eine Bedrohung des Allgemeinwohls, und auf der anderen Seite wird Alkohol immer noch als harmloses Genußmittel betrachtet. Während man sich mit allen Mitteln auf die 100.000 Heroinsüchtigen mit ihren rund 2.000 Toten pro Jahr konzentriert und „Keine Macht den Drogen“-Kampagnen organisiert, hat sich die Zahl der Alkoholsüchtigen in den vergangene fünfzehn Jahren verdoppelt. Die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren geht derweil von annähernd drei Millionen behandlungsbedürftiger Alkoholiker aus, von denen etwa jeder zehnte im jugendlichen Alter ist.
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