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Zersplittert und unglaubwürdig

In Villa El Salvador, dem für seine Selbstorganisation bekannten Stadtviertel von Perus Hauptstadt Lima, hat die Linke in den letzten drei Jahren ihre Hegemonie verloren – und die Stimmen auch  ■ Aus Lima Ralf Leonhard

„Und was wünscht ihr euch noch für eure Schule?“ – „Computer! Computer!“ – „Gut, wir werden dieser Schule zehn Computer schicken“, versprach der Präsident. Schon zwei Tage nach seinem überwältigenden Wahlerfolg setzte Alberto Fujimori die Serie von Schuleröffnungen fort, die seinen Wahlkampf mitgeprägt hatte.

Für seinen ersten öffentlichen Auftritt nach der Wahlschlacht, bei dem er sich von einem Troß von Funktionären und Journalisten begleiten ließ, wählte er die volkreichen Armenviertel im Süden von Lima: San Juan de Miraflores und Villa El Salvador.

Villa El Salvador, eine 25 Jahre alte Siedlung, die mit fast 300.000 Einwohnern die Dimension einer mittleren europäischen Stadt angenommen hat, war vor wenigen Jahren noch eine Hochburg der Linken, in der kein Politiker rechts der Sozialdemokratie einen Fuß auf den Boden bekommen hätte. Jetzt wird der neoliberale Antipolitiker Fujimori wie ein Held umjubelt. Denn unter seiner Regierung ist zwar kein Wohlstand eingekehrt, aber Stabilität. Und die Repression der Armee ist der Kooperation der Polizei gewichen, seit die Terroranschläge des maoistischen Sendero Luminoso der Vergangenheit angehören.

Als der reformistische Diktator Juan Velasco Alvarado im Jahre 1970 ein Stück Wüste am Rande der Hauptstadt für die Besetzer zentraler gelegener Grundstücke parzellieren ließ, gab es da weder Wasser noch Stromanschluß. Jahrelang mußten die Siedler ihr Wasser zu überhöhten Preisen von privaten Tankwagen kaufen. Doch von Anfang an organisierten sie sich. Jeder Wohnblock entsandte Vertreter in die Bezirksversammlung, wo nicht nur alle kommunalen Angelegenheiten diskutiert, sondern von der „Vereinigten Linken“ auch die Parolen für die politische Arbeit ausgegeben wurden.

Auch heute noch ist Villa El Salvador eine Wüstenstadt. Im alten Teil sind aus den Wellblech- und Holzhütten nach und nach bescheidene Ziegelbauten gewor- den, fast alle in der gleichen Größe, wie sie eben die knappe Parzelle von sieben mal zwanzig Metern zuläßt. Nur ganz vereinzelt erfreut ein Baum oder eine Hecke das Auge. Gras ist hier unbekannt; zwischen den Häuserzeilen liegt grauer Sand. Zwar gibt es jetzt eine Wasserleitung, aber die liefert Wasser nur einmal in der Woche, für vier Stunden. Dann wird gewaschen und geputzt und in allen Häusern werden Tonnen und Eimer für den Rest der Woche gefüllt.

Trotzdem hat sich das Bild der Siedlung in den letzten Jahren merklich verändert. Der Besucher, der im November 1992 noch durch die Trümmer eines Polizeilokals stapfte, das von Sendero Luminoso mit einer Autobombe in die Luft gejagt wurde, sieht an derselben Stelle eine schmucke Fassade. Auch der heruntergekommene Komplex der Gemeindeverwaltung wurde frisch gestrichen. Es gibt mehr kleine Läden, und aus einer rostigen Benzinpumpe ist eine richtige Tankstelle geworden. Ein paar Diskotheken sind entstanden, wo sich die Jugendlichen abends ohne Angst vor Anschlägen vergnügen können.

Auch heute noch sind fast alle in Villa El Salvador organisiert: es gibt Komitees für die Abfallbeseitigung und für Elektrifizierung, von Frauengruppen betriebene Volksküchen, eine Organisation der Gesundheitspromotoren, einen Zusammenschluß der fliegenden Händler, Sportklubs, Vereinigungen von Taxifahrern und Handwerkern. Ja selbst die Behinderten und die 150 Tuberkulosekranken sind organisiert.

„Aber von der Hegemonie der linken Parteien ist nichts übrig geblieben“, erzählt Martha Moyano, die über die christliche Jugend politisiert wurde und bei der Gründung der Volksbibliotheken Mitte der achtziger Jahre eine führende Rolle spielte. Ihre ältere Schwester, Maria Elena Moyano, war ein Symbol für die unabhängige Position der Gemeindeorganisation, die sich weder von der Regierung kooptieren lassen wollte, noch den Unterwanderungsversuchen des Sendero Luminoso nachgab. Als Gemeindevorsteherin von Villa El Salvador wurde sie zur Märtyrerin: Am 15. Februar 1992 wurde sie auf einem Stadtteilfest von einem Sendero-Kommando gekidnappt, erschossen und dann von einem Paket Dynamit um den Leib in Stücke gerissen.

Sieben Monate später fiel Abimael Guzman, der legendäre Presidente Gonzalo des Sendero Luminoso, in die Hände der Antiterrorpolizei, und auch in Villa El Salvador verloren die Operationen der demoralisierten Guerilla bald an Kraft. Die Organisation spaltete sich, als ein nach mehreren Monaten strikter Isolationshaft mürbe gewordener Guzman zur vorläufigen Einstellung des bewaffneten Kampfes aufrief. „Wir wurden als politische Versuchskaninchen verwendet“, erinnert sich Martha Moyano, „als die Gemeindeorganisation durch eine Friedenskommission mit drei von der Regierung entsandten Mitgliedern und drei Delegierten der Gemeinde ersetzt wurde.“ Alle drei Gemeindevertreter waren als militante Senderistas bekannt.

Die traditionellen Organisationen hatten dem nichts entgegenzusetzen. „Nach Maria Elenas Tod hat sich die Linke in 32 Gruppen zersplittert und jede Glaubwürdigkeit verloren“, seufzt Martha, die den späteren Gemeindevorsteher Michel Azcueta für das Desaster verantwortlich macht, weil er die Einheit der Linken seinen persönlichen Ambitionen opferte.

Die Folgen waren fatal. Als sich Azcueta vor zwei Jahren um das Amt des Oberbürgermeisters von Lima bewarb, versagte Villa El Salvador ihm nicht nur die Stimme, sondern votierte noch dazu in der Gemeinde für einen gänzlich unbekannten Kandidaten einer rechten Liste. Doch der Vietnamveteran Jorge Vasquez sollte sich bald als Alkoholiker, Schürzenjäger und durch und durch korrupt erweisen. Nach ein paar Monaten wurde er wegen Betrugs und Amtsmißbrauchs zu zehn Jahren Haft verurteilt. Für die Linke aber waren die Stimmen dennoch verloren. Bei den Wahlen vom 9. April erlitt die Vereinigte Linke in Villa El Salvador ein ähnliches Debakel wie im Rest des Landes.

Für Martha Moyano ist es jetzt an der Zeit, einen Neuanfang zu unternehmen. Ein Jahr nach dem Tod ihrer Schwester gründete sie mit einer Handvoll Vertrauten die Stiftung Maria Elena Moyano. Sitz ist das ehemalige Wohnhaus der Getöteten, wo auch Martha wohnt, seit sie ihr eigenes Haus verkaufen mußte, um die Gedenkfeiern für die ältere Schwester zu finanzieren. An der Wohnzimmerwand hängt ein Plakat von José Carlos Mariategui, dem in den dreißiger Jahren verstorbenen Vordenker der peruanischen Marxisten, dessen Leitspruch, der lateinamerikanische Sozialismus dürfe „weder Kopie noch Blaupause“ der europäischen Erfahrungen sein, von der Vereinigten Linken aufgegriffen wurde.

Doch über den richtigen Weg, die Taktik, die Strategie und die Kampfformen wurde bis zur Selbstzerfleischung gestritten. Unter diese Vergangenheit will die Stiftung jetzt einen Schlußstrich ziehen und neue kommunale Führerfiguren heranbilden, vor allem unter Kindern und Jugendlichen. Den ideologischen Rahmen der Arbeit versucht Martha folgendermaßen abzustecken: „Den Senderistas wollen wir sagen, daß sie mit ihren terroristischen Methoden auf dem falschen Weg sind, und der Linken, daß es an der Zeit wäre, der Gemeinschaft für die Fehler der Vergangenheit geradezustehen.“

An ein breiteres Publikum wollen die Aktivisten der Stiftung über ein Gemeinderadio herankommen. Villa El Salvador hat zwar seit einigen Jahren zwei Radiosender und sogar einen Fernsehkanal, „doch das ist reiner Kommerzfunk. Für unsere Programme ist dort kein Platz“, klagt Martha. Sie will einen Rundfunk, an dem sich viele beteiligen.

Die Regierung beschränkt sich auf den öffentlichkeitswirksamen Bau von Schulen und Programme für die Finanzierung von Wohnhäusern. Wie alle Vorgänger hat Fujimoris Regierung außerdem ein Programm für Direkthilfe an Bedürftige, das die sozialen Kosten seines brutalen Privatisierungsprogrammes mit der Verteilung von Lebensmitteln an die Arbeitslosen abfedern soll.

Der sogenannte Industriepark am Rande der Siedlung hat sich auch unter dem unternehmerfreundlichen Regime der letzten Jahre nicht entwickelt. Nicht lokale Investoren oder ausländische Kapitalisten sind die wichtigsten Sponsoren, sondern die Europäische Union, die aus ihrem Entwicklungshilfeetat ein paar Schuh- und Textilfabriken finanziert hat. Zum Teil exportieren diese sogar, aber sie schaffen kaum Arbeitsplätze, und die Produkte sind für den lokalen Markt zu teuer.

Das riesige Areal liegt noch immer genauso ungenutzt da wie vor ein paar Jahren. Die Handwerker ziehen es vor, zu Hause zu arbeiten, und die Kaufleute sind mehrheitlich fliegende Händler, die hier keine Kundschaft finden. Sie nehmen lieber die einstündige Busfahrt ins belebte Zentrum von Lima auf sich.

Noch immer sind die Lebensbedingungen der Menschen am Rande der Hauptstadt, mit dem Verkehrsproblem, der Wassernot und der immer noch unzureichenden Infrastruktur alles andere als attraktiv. Und dennoch hat auch Villa El Salvador bereits Satellitenstädte entwickelt. Die jüngste entsteht gerade erst auf einem bisher unbewohnten Hügel jenseits der Straße. In den letzten Wochen sind dort die ersten Hütten aus dem Boden geschossen. „Unsere Kinder sind das“, sagt eine Frau im „historischen“ Teil von Villa El Salvador.

Sie fangen genauso an wie vor 25 Jahren ihre Eltern: in primitiven Hütten ohne Wasser und Strom, hingestellt ins Nichts. Vielleicht werden sie, anders als die Pioniere von Villa El Salvador, die erste Schule nicht selber bauen müssen. Vielleicht wird sie in ein paar Jahren von Präsident Fujimori persönlich eingeweiht und mit modernen Computern bestückt.

Doch wenn die Siedler keine Arbeit finden, werden sie, wie eine zunehmende Zahl von Peruanern, ihre Kinder lieber zu Hause lassen, als sie barfuß und hungrig zum Unterricht zu schicken.

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