: Kinderblick zurück
■ Louis Begley erhält für „Lügen in Zeiten des Krieges“ den Bremerhaven Jeanette-Schocken-Preis
Er ist aus New York mit seiner Frau nach Bremerhaven geflogen, um den Jeanette-Schocken Preis in Empfang zu nehmen. Am Vorabend der Verleihung stellte er den preisgekrönten Roman in einer Lesung vor. Daß Louis Begleys „Lügen in Zeiten des Krieges“ inzwischen zu einem Bestseller geworden ist, zeigte der Besucheransturm auf die viel zu kleine Kunsthalle. Vor fast 200 Gästen begüßte Professor Wolfgang Emmerich, Mitglied der Schocken-Jury, den 61-jährigen Rechtsanwalt und Romancier Louis Begley mit einem deutlichen Wort zu der seit Wochen geführten Kontroverse um die Würdigung des 8. Mai. Der Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht sei ein Tag der Befreiung, und dafür könne er sich in Bremerhaven keinen besseren, würdigeren Gast denken als Louis Begley. Begley, 1933 in Galizien als Ludwik Begleiter geboren, entging ebenso wie die Eltern Franziszka und Dawid der Vernichtung dcr Juden in Polen. Seit 1947 lebt die Familie in New York. Völlig überraschend entschließt sich der international erfolgreiche Anwalt mit 57 Jahren zur Niederschrift seines ersten Romans. 1991 erscheint „Wartime Lies“, 1994 die vielgelobte deutsche Übersetzung von Christa Krüger unter dem Titel „Lügen in Zeiten des Krieges“.
„Louis Begley hat in seinem Roman eigene Kindheitserfahrungen thematisiert. Er beschreibt die Odyssee eines untergetauchten jüdischen Kindes und seiner Tante Tanja nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in der polnischen Provinz und in Warschau. Um zu überleben, müssen die Flüchtlinge ihre Existenz immer neu erfinden. Das Kind wird so in einem Vexierspiel aus Maskierungen, Tarnungen und Täuschungen zu einem Meister der Lüge. Die Kühnheit des Buches besteht darin, daß der Autor die Perspektive des Kindes – auch aus dem Abstand von mehr als fünf Jahrzehnten – nicht verläßt.“ So hatte die Jury des mit 10.000 Mark dotierten und aus Spenden Bremerhavener Bürger gestifteten Jeanette- Schocken-Preises Begleys Roman gewürdigt. Begley liest auf englisch die ersten Seiten seines Romans, in dem ein 50 jähriger Erzähler, „ein Mann mit freundlichem Gesicht und traurigen Augen“, von der Scham spricht, „am Leben geblieben, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren.“ Begley besteht darauf, daß er nicht identisch ist mit seiner Roman-Figur, aber der schmale, zarte, elegant gekleidete und äußerst distinguierte Herr ist ebenfalls ein Mann mit freundlichem Gesicht und traurigen Augen. Er liest eine der zentralen Passagen des Buches, in der es nicht nur um die permanente äußere Gefährdung geht, sondern um den moralischen Konflikt, in den das Kind Maciek gerät, das aus Tarnungsgründen von seiner lebensklugen und energischen Tante Tanja zum Katechis- musunterricht geschickt wird. Maciek, der jetzt Janek heißt, lernt Gebetsformeln und Rituale des katholischen Glaubens genau zu beachten. Vom Priester muß er hören, daß den Juden „das Tor zur Erlösung“ verschlossen bleibe. Sie hätten den Sohn Gottes gekreuzigt und seien „eindeutig verdammt“. Maciek folgert: „Ich log und heuchelte jeden Tag, allein deshalb steckte ich tief im Sündenpfuhl. Ich war unrein in Gedanken, was eine Todsünde war, und im Begriff, eine Gotteslästerung zu begehen, die schlimmste Sünde von allen, wenn ich ungetauft und nach einer falschen Beichte zur Kommunion ging.“
Es ist schwer, nach einer solchen Lesung Fragen zu stellen. Die Diskussion ist deshalb kurz. Warum er erst so spät angefangen habe zu schreiben, wird Louis Begley gefragt. Er zögert mit der Antwort, er könne es nicht genau sagen. Es sei so passiert. Es gibt Erzählversuche aus der Schul- und Studienzeit, Geschichten, die als frühe Fassungen von „Lügen in Zeiten des Krieges“ gelten können. Es gibt auch die Aussage von Begleys Sohn Peter, der im „New Yorker“ erklärte, daß in der Familie über den Krieg fast niemals gesprochen wurde. „Aus diesem Grunde überraschte es uns umso mehr, daß er urplötzlich der Öffentlichkeit preisgab, was vorher noch nicht einmal im Familienkreis besprochen worden war.“ Louis Begley hat seine glänzende Anwaltskarriere keineswegs an den Nagel gehängt. Er hat zugleich bewiesen, daß er kein ,,One-Book-Author“ ist. Nach seinem Erzähldebüt sind inzwischen zwei weitere Romane erschienen, mit denen er allmählich aus den Schatten der Vergangenheit heraustritt. Aber auch dort, wo ihm seine Figuren nicht so nahe kommen wie in dem jetzt preisgekrönten „Lügen in Zeiten des Krieges“, schreibt Begley über „Erfahrungen, die mir eingeätzt worden sind, über Dinge, die mich sehr hart getroffen haben.“ Im Herbst erscheint die deutsche Übersetzung seines letzten Buches „As Max saw it“. Es geht um den schwulen Architekten Charlie Swan, dessen schöner junger Liebhaber an Aids stirbt. Max, der Erzähler und Freund Charlies, wird zum anteilnehmenden Zeugen. Begley hatte keine Hemmungen, die Figur Charlie Swan zu erschaffen. „Ich war nicht der Meinung, daß es für einen heterosexuellen Schriftsteller irgendwie ungehörig ist, wenn er über homosexuelle Liebe schreibt.“ Es war das Dilemma der Überlebenden, das ihm zu denken gab, „was man empfindet, wenn der Mensch, den man liebt, allmählich von der Krankheit zerstört wird. Was man empfindet, wenn man durch ein Wunder oder durch Zufall selbst von der Krankheit verschont bleibt.“
Hans Happel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen