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Gar keine Früchte

Im Brustton der Apokalypse: Ein Fotoband nimmt „Abschied von Bitterfeld“ und seinen allegorisch wuchernden Bergen von Industrieschrott  ■ Von Harald Fricke

In allen Industrieregionen wird ein solches Jubiläum gefeiert, nur in Bitterfeld ist es zum hundertsten Geburtstag des ersten dort ansässigen chemischen Werkes still. Während Teile der Völklinger Stahlhütte dieses Jahr von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurden, gilt das zwischen Leipzig, Halle, Dessau und Wittenberg gelegene Revier fünf Jahre nach der Wende noch immer als größte Müllkippe der Republik. Alle schon im Juni 1990 gestarteten Versuche, den Gesamtkomplex zu privatisieren, sind gescheitert; die zum „Chemiepark“ erklärten abgeräumten Fabriken, Depots und Fertigungshallen veröden, der Boden ist weitflächig bis in die Tiefe verseucht.

Auch auf den Fotos von Martin Schoeller, der im Frühjahr 1993 eine Bestandsaufnahme von Bitterfeld und Umgebung gemacht hat, ist nichts feierlich. Ausgeweidete Ladas zwischen verlassenen Wohnheimen, von saurem Regen zerfressene Gasleitungen und bergeweise Industrieschrott: Bitterfeld ist eine Ruine ohne jede Verfallsromantik. Sie paßt zu der von Jens Reich beschriebenen DDR- Erfahrung: „Am Grab des utopischen Entwurfs stehen die vollendeten Projekte, die Großbauten des Sozialismus.“ Dabei waren es nicht allein die Utopien eines Walter Ulbricht, sondern auch die von Walther Rathenau, dessen „Elektrochemische Werke GmbH zu Berlin“ 1893 nach Bitterfeld umsiedelten.

Obwohl sich derlei Fotomotive bekanntermaßen auch in den Randzonen von Athen oder Marseille finden, zeigt Schoeller, der zuletzt Annie Leibowitz assistierte, mit jedem der achtzig Schwarzweißbilder vom Maschinendetail bis zur Panoramalandschaft auf, wie der Fortschritt, die von Karl Marx prophezeite „Überwindung der Mythologie durch die Industrie“, in Verelendung umgekippt ist, Flüsse, Seen, Hallen, Häuser und Menschen inklusive. Für die letzte Einsicht läßt Schoeller dann Kinder in der Sandkiste eine vom Fernsehen aufgeschnappte Erschießungsszene vor der Kamera nachspielen. Ein wenig scheint es, als habe der Fotograf die bekannten Endzeit-Metaphern des Westens am maroden Osten belegen wollen. Tschernobyl ist eben nicht überall. Gorleben war es früher noch.

Die trostlosen Bilder sind nur ein Teil der Katastrophe. Eingerahmt werden die Fotos von zwei Aufsätzen, in denen Wilfried F. Schoeller, Kulturredakteur des Hessischen Rundfunks, parallel zu den Erkundungen seines Sohnes eine aufschlußreiche Chronik von Bitterfeld zusammengetragen hat. Darin berichtet Schoeller sen. nicht bloß von den Verfehlungen der DDR-Planer, sondern verfolgt den ökologischen Niedergang richtigerweise bis zum Ersten Weltkrieg zurück, als in der Region neben chemischen Farben auch Giftgase für die Westfront hergestellt wurden. Am 20. Juni 1916 vermeldet das Bitterfelder Tageblatt: „Es ist in unseren Gärten in Bitterfeld, namentlich in freiliegenden, die Beobachtung gemacht, daß trotz der überaus reichen Blüte die Obstbäume teils gar keine Früchte ansetzen und an anderen diese abfielen, so daß viele Bäume nicht eine einzige Frucht behalten haben. Die Blätter kräuseln sich, werden braun und fallen schließlich ab, so daß die Bäume wie versengt aussehen.“

Gerade die etwas unbeholfene Schilderung der zerstörten Natur macht die ganze Schizophrenie und Verzweiflung noch in Zeiten des Kapitalismus deutlich, bevor in den fünfziger Jahren die SED mit zwangsverordneter Arbeiter-Poesie den Verfall auf dem „Bitterfelder Weg“ literarisch zurechtbiegen ließ. Opfer als Produzenten: Die Menschen der Region sind zugleich Nutznießer und Geschädigte, 1918 arbeiten dort allein 6.000 Beschäftigte in der Sprengstoffindustrie. Daß die Bitterfelder Firmen Agfa und Griesheim 1925 dann entscheidenden Anteil an der Fusion des nationalen Verbunds der „I.G. Farben“ haben, gehört ebenso in die von Schoeller angeführte Logik einer technologisch gestützten Großmachtpolitik wie die Tatsache, „daß sogar noch das Zyklon B, das in Auschwitz zur Massenvernichtung der Juden eingesetzt wurde, aus einer Zweigfirma von I.G. Farben und Degussa stammte.“

Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ machte die Verwaltung weiter wie gehabt: Häftlinge an den risikoreichsten Stellen. Dazu gibt es ein Foto von der Haftanstalt. Auf die Gefängnismauer ist als Leitspruch geschrieben: „Die Gesellschaft und deine Familie warten auf dich. Denkst du daran?“ Doch auch diese kenntnisreiche Bilanz der Industriegeschichte driftet in den gehobenen Brustton der Apokalypse Ost ab. Der desolate Zustand von Bitterfeld wird von Wilfried F. Schoeller als Allegorie auf das Scheitern des DDR-Staates gelesen, das sich immer weiter in den Identitäten der dort lebenden Bevölkerung wiederholt: „Arbeitslose, angestellt auf Zeit in der ,Bitterfelder Qualifizierungs- und Projektierungs- Gesellschaft‘ (BQP), Friedhofswärter auf Zeit, sollen die toten Anlagen abreißen, Gruben zuschütten, die Gewerbegebiete vom Schutt befreien. Oft haben sie den gleichen Arbeitsplatz demontiert, der ihnen zuvor Verdienst und Sinn gegeben hatte. Ein Vorgang der Selbstauflösung ist inbegriffen.“ Interessanterweise ist das erste Werksmuseum der Welt 1968 in Starachowice entstanden. Das kleine polnische Hüttenwerk wurde noch vier Jahre vor „Sloss Furnaces“, dem US-amerikanischen Vorbild aller Industriearchäologie in der „Magic City“ Birmingham, unter Denkmalschutz gestellt – 15 Jahre vor dem Ende der kommunistischen Diktatur.

Wilfried F. Schoeller/Martin Schoeller: „Abschied von Bitterfeld“. Steidl Verlag, 144 S., 82 Abbildungen, 48 Mark

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