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„Ach, das ist lang vorbei“

Zu Besuch bei der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Pani Febronia  ■ Von Petra Löber

Das Försterhaus von Czerniewice erreicht, wer in östlicher Richtung die Landstraße verläßt. Man nimmt die Wisniowa, den Weichselkirschweg, die Miodowa, den Honigweg, und quert eine kaum befahrene Bahntrasse. Schon bald ist man in einem lichten Mischwald, durchsetzt mit jungen Birken. Rehe gibt es hier, viel Schwarzwild auch, selten sind, wie überall im Culmer Land, die Hasen.

Friedlich mutet die flach dahingestreckte Landschaft an, das noch zaghafte Grün behauptet, daß der Winter in diesem Jahr nun endgültig vorbei sei. Die Weichsel, die nicht weit entfernt behäbig in ihrem Bett liegt und kaum voranzukommen scheint, ist hier nicht zu hören. Rechts und links säumen die vor langer Zeit gepflanzten Bäume mit ihren angehängten Brutkästen die sandige Piste, die geradewegs auf das Haus zuführt.

Ostern 1995: Pani Febronia, 63, und ihr Mann, der Förster Pan Stefan, haben um sechs Uhr früh in der Dorfkirche die Ostermesse mit einer Lichterprozession zur Auferstehung des Gekreuzigten gefeiert. In einem mit Buchsbaum geschmückten Weidenkörbchen haben sie Brot, Salz, Ei, Meerrettich, Schinken und Kuchen zum Weihen in die Kirche gebracht und an diesem Sonntag unter Glück- und Segenswünschen mit den Angehörigen geteilt.

Gegen elf Uhr erwarten sie mich, hatten sie am Telefon gesagt, und jetzt sitzen wir uns in ihrer Stube gegenüber. Alle Wände sind mit ausladenden Geweihen geschmückt, auf dem Boden Wildschweinfelle, Pan Stefan ist ein ausgezeichneter Schütze. Von ihrer letzten Pilgerreise hat Pani Febronia aus Rom zuckrigen himmelblauen Likör und schwarze Rosenkränze aus Ebenholz mitgebracht, die ihr der Papst geweiht hat und die jetzt dekorativ aufgehängt sind, über den Türen die Kruzifixe.

Wir essen selbstgebackenen Mohnkuchen und trinken Milchkaffee, in dem fast der Löffel stehen bleibt, so viel Kaffeemehl hat Pani Febronia dem Gast überbrüht. Nach und nach kommt sie ins Erzählen, zuerst stockend, zwischendurch unterbricht sie sich, und ich muß ihr dann wieder versichern, daß ich gekommen bin, um zu hören, was sie mir zu erzählen hat. Etwas ungläubig lächelt sie dann: „Ach, die alten Geschichten, lang vorbei“, aber dann erzählt sie doch weiter.

April 42 sind sie gekommen, nachts, in schwarzen Uniformen, SS-Männer oder SA, Pani Febronia weiß es nicht mehr, sie war ein Kind damals, kaum zehn Jahre alt.

„Los, raus aus den Betten, aufstehn, anziehn, schnell, schnell!“ hieß es da, die deutschen Befehle kennt sie noch wörtlich. Sind gekommen, die Familie abholen, den Vater Jan, die Mutter Wladislawa und ihre fünf Kinder, Grzegorz, Ludwik, Henryka, Febronia und den kleinen Jan, den Sechsjährigen, der zu weinen anfing. Haben sie packen geheißen, Bettzeug und ein paar Kleider für den Arbeitseinsatz, sonst nichts. Aber Grzegorz, dem Achtzehnjährigen, ist es gelungen, unbemerkt zu fliehen. Ihn haben sie nie wiedergesehen, den Bruder, den die Deutschen dann erschossen haben im November 44. Es hatte geheißen, er habe den Partisanen geholfen.

„Ein SS-Jagdkommando hat ihn zur Strecke gebracht“, fügt da Stefan, der Förster, hinzu, und an Ort und Stelle hätten sie Grzegorz Narodzonek, gerade 20 Jahre alt, im Wald verscharrt. In Zaborowo, Kreis Brodnica, war das, da war auch Febronias Elternhaus, das Bauernhaus mit den 20 Hektar Feld, ein schmuckes Anwesen. Die Deutschen, seit September 39 als Herrenmenschen im Land, hätten mit Vorliebe die Bauern der stattlicheren Höfe geholt, die haben sie für ihre eigenen Leute frei gemacht. Haus und Hof der Familie Narodzonek haben Deutsche aus Bessarabien bekommen.

Auf einem Lkw wurden Febronia und ihre Familie in ein Lager gebracht, drei Monate haben sie da gehaust, unter schlimmen Bedingungen. Im Brot war Sägemehl, und die Kinder waren krank geworden davon, auch der kleine Jan. Aber die Mutter hat ihn versteckt, damit die Bewacher nicht merkten, daß er krank war. So konnten sie ihn gesund pflegen.

Im Lager mußten die Eltern schwer arbeiten, für die Kinder gab es Deutschunterricht, sie sollten dolmetschen fürs Deutsche Reich.

Nach drei Monaten waren genügend „Arbeitspolacken“ zur Aussiedlung zusammen, und die Deutschen hatten einen Transport organisiert. Per Zug tagelang, nächtelang nach Westen, meist hat sie geschlafen oder gesungen und gebetet, keiner wußte, wohin es geht. Dann ein zweites Lager, Ilsenburg im Harz, dort gab es weder Kaffee noch Tee, und sie haben Wasser mit Maggi getrunken, davon hat die Mutter ihr Leben lang erzählt, wenn sie irgendwo Maggi gesehen hat. Von Ilsenburg aus sind sie auf Lkws in die Altmark gebracht worden, von Ort zu Ort gefahren, wo polnische Fremdarbeiter eingesetzt werden sollten. Nach und nach mußten die anderen aussteigen, bis am Ende nur noch Febronias Familie übrig war. Ein Glück war das, daß sie zusammenbleiben konnten, und als letzte wurden sie dann in Vinzelberg abgeliefert, in Vinzelberg bei Gardelegen, Kreis Stendal in der Altmark.

Dort war man allerdings alles andere als erbaut, sechs Esser, darunter aber nur einen arbeitsfähigen Mann zu bekommen. Eine Familie mit vier Kindern hatte sich das Ehepaar von Krecher wahrlich nicht erhofft. Als „Ersatz“ für ihre drei Offizierssöhne, deren Arbeitskraft hier nun an allen Ecken und Enden fehlte.

Mißtrauisch hat man sie gefragt, was sie wohl angestellt hätten, so daß sie zur Strafe verschleppt worden seien. Ein Verwalter hat die sechzehnjährige Schwester für sich reklamiert. „Henryka, du kommst zu mir!“ hat es da geheißen. Sie mußte mit ihm gehen und wurde Dienstmädchen in seinem Haus. Aber sie hat es ganz gut gehabt. Genug zu essen. Der Vater dagegen mußte schwer arbeiten, aber auch die anderen mußten mit aufs Feld, Schweine füttern, Schafe hüten, immer was zu tun. Franzosen waren da, Russen auch.

Eine schlesische Familie war da auch noch, katholisch, und sehr stolz auf ihr Deutschtum. Sechs blonde Kinder haben die gehabt, mit sechs deutschen Namen, „Grete, Rosemarie, Heinz, Dieter, Helmut und Gerhard“. Sie haben zusammen gespielt und sind sonntags in die Kirche gegangen, die schlesische Mutter immer mit dem Mutterkreuz um den Hals. Der Pfarrer kannte sie gut, es sind ja nicht viele katholisch in der Altmark. Außer der Kirche gab es noch die Post, das Wirtshaus mit dem Gastwirt Trumann und die Dorfschule, in die Febronia und ihr Bruder drei Jahre lang gehen durften: weil ihr Vater Jan seinen deutschen Wehrpaß aus dem Ersten Weltkrieg noch hatte, der ihm zu Hause in Westpreußen auf den Namen Johann ausgestellt worden war. Er trug ein „P“ für „Pole“.

Weil er auf seiten der Deutschen gekämpft hatte und verwundet worden war, haben sie dann in Vinzelberg seine Kinder ausnahmsweise zum Schulbesuch zugelassen. Da hat sie Glück gehabt, Jesus Maria, lacht Pani Febronia, Mathematik ist doch überall gleich, oder nicht? Und so kann sie ja auch deutsch mit mir sprechen, „is' doch scheen“, wenn sie auch vieles vergessen hat. Den Namen des Lehrers weiß sie noch, Lehrer Kuber, er hat die Kinder geohrfeigt, auch den kleinen Bruder Jan, immer ins Gesicht. Wenn sie keine Lust hatten, auf der großen Landkarte die Front zu zeigen, wie das Radio sie gemeldet hatte und wie Lehrer Kuber das immer sehen wollte, haben sie geschwänzt.

Mit den Familienangehörigen in Westpreußen haben sie zunächst noch Briefe wechseln können, auch Pakete geschickt und bekommen. Fleisch und Speck hat ihnen die Tante geschickt, die konnten sie gegen Kleidung tauschen. Einmal haben sie eine Ziehharmonika geschickt, daran erinnert sich Febronia noch genau.

Wie sie das Kriegsende erlebt hat? Na, es war nicht so schlimm, die Engländer haben zwar Magdeburg mit Christbäumen beleuchtet, aber es ist nicht bombardiert worden bei ihnen. Es gab ja auch keine Fabriken, kaum Militär haben sie zu sehen gekriegt, nur einzelne Soldaten, die nach Eßbarem gesucht hätten.

Meine Frage, ob sie Häftlinge und Kriegsgefangene aus den Konzentrationslagern gesehen habe, die auf den Todesmärschen durch diese Region getrieben worden waren, verneint sie. Das sei ja bestimmt auch geheim gewesen; und welcher Deutsche hätte ihnen, den Zwangsarbeitern, davon wohl etwas sagen sollen?

Erst sind die Amerikaner gekommen, dann die Russen, und die Zwangsarbeiter von Vinzelberg haben ihren Verwalter vor Übergriffen geschützt. Auch vor der Selbstjustiz. Er ist ja ein guter Mensch gewesen, sagt sie.

Febronias Schulbescheinigung, ausgestellt in einem Braunschweiger Durchgangslager, bestätigt den Schulbesuch bis zur 3. Klasse und daß das Schuljahr am 15. August 1945 für sie in Vinzelberg zu Ende ging. Und wieder haben sie damals Glück gehabt, konnten zusammenbleiben, die ganze Familie.

Die Amerikaner haben den Transport über Hamburg organisiert, von da aus haben sie über eine Pontonbrücke die Oder überquert und sind nach Szczecin/Stettin gekommen. Dann immer weiter, auf eigene Faust, unterwegs wurden sie überfallen und beraubt. Sogar geschossen wurde damals in den Zügen. Ludwik, der ältere Bruder, hatte versucht, den kleinen Jan zu schützen, hatte sich über ihn geworfen, dabei sind ihnen wichtige Dokumente verlorengegangen. Das letzte Stück Weg hat sie ein Pferdewagen mitgenommen, dann waren sie endlich wieder zu Hause. November 1945 und kalt war das.

Fremde sind in ihrem Haus gewesen, viele Leute und kaum Platz für sie. Alle waren arm, es gab fast nichts mehr. Niemand, nicht einmal die eigene Verwandtschaft, hatte noch mit der Rückkehr der Familie Narodzonek gerechnet.

Was sie da machten? Na, sich eingerichtet, so gut es ging. In den Paketen, die sie von den Amerikanern bekommen hatten, waren auch Zigaretten, die haben sie gegen Brot getauscht. Ein Onkel hat ihnen eine Kuh gegeben, es gab noch etwas Korn, und mit geliehenem Geld haben sie sich zwei Ferkel gekauft.

Im Winter 1945 wurde dann auch gefunden, was von Grzegorz, dem schönen Bruder, noch übrig war. Das Wild hatte die Leichen im Wald gewittert und angefangen sie auszugraben, sagt Stefan. Auch ihre Nachbarn waren darunter, die Deutschen hatten sie erschossen, weil sie schwarzgeschlachtet hatten. Alle aus dem Dorf sind hingegangen, sich das ansehen, die Toten ausgraben, ihnen auf dem Friedhof an der Kirche Gräber geben und eine Messe feiern.

Febronia schweigt, sieht mich an, gestern war sie am Grab von Grzegorz, Blumen bringen und eine Kerze anzünden.

In der letzten Zeit denkt Febronia häufiger an früher. 1980 ist sie mit Stefan in ihrem Fiat Polski nach Vinzelberg gefahren. Damals ging das, war die DDR vor dem Kriegsrecht in Polen noch nah. Das Haus steht noch, ist zugemauert, eine LPG hat Garagen gebaut.

Von der älteren Frau auf der Post hat sie gehört, daß die Schlesierin mit ihren Kindern in die Stadt gezogen ist. Keine Ahnung, in welche. Der Tankwart hat sich noch erinnert, daß seine Eltern von der polnischen Familie erzählt haben. Er selbst sei ja nicht dagewesen, war Wehrmachtssoldat, in Polen, in Rußland.

Daß in Berlin gefeiert wird ohne die Polen, das versteht sie nicht. „Hat doch der Krieg bei uns angefangen und haben wir doch Widerstand geleistet und gegen die Nazis gekämpft und Tote gehabt, sechs Millionen.“ Sie schweigt.

Daß der Streit jetzt auch an den Gräbern noch weitergeht, das versteht sie nicht. Sie steht auf und gibt mir das Arbeitsbuch der Familie Narodzonek mit dem „P“ und den Hakenkreuzstempeln in die Hand. Alt sieht es aus, uralt, fast wie aus einer anderen Welt.

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