Mal Kind, mal Blaubeerstrauch

■ Das englische ThéÛtre de Complicité verzaubert für zwei Tage das Hamburger Schauspielhaus

Das Leben auf dem Land – für Stadtmenschen ist es eine Projekti-onsfläche für Wünsche und Ängste. Vielschichtig, rauh, aber nicht ohne Liebe, so zeigt sich eine Dorfgemeinschaft aus den französischen Alpen in dem Stück Die drei Leben der Lucie Cabrol. Die grandiose britische Schauspieltruppe ThéÛtre de Complicité ließ es während ihres Gastspiels am Freitag und Sonnabend im Hamburger Schauspielhaus lebendig werden.

John Berger lieferte die Vorlage. „The Cockatrice“ – „die Schlange“ – wird Lucie schon als Kind genannt. Sie ist klein wie ein Zwerg, giftig wie eine Schlange und doch liebenswert und fähig zu lieben. Dieses eigenwillige Mädchen, das schuften kann wie ein Mann, paßt nicht in die streng verteilten Rollen der Geschlechter. So ein Charakter muß anecken. Und das tut er. Von Kindheit an schwelt der Konflikt zwischen Lucie und ihrem jüngeren Bruder Henri. Nach dem Tod ihrer Eltern und des geliebten großen Bruders Emil endet Lucies erstes Leben – mit der Vertreibung vom elterlichen Hof.

Ihr zweites Leben verbringt sie als Einsiedlerin in einer kargen Hütte. Sie lebt bescheiden, obwohl sie über die Jahre als Schmugglerin ein Vermögen angehäuft hat. Unter ihrem Rock brachte sie Zigaretten über die Grenze. Nachfragen der Zöllner wehrt Lucie mit sexueller Anzüglichkeit ab: Ein Geschenk für junge Männer habe sie unterm Rock. Anziehen und Abstoßen, Begehren und Verlieren, das sind die Themen in Lucies Leben. Jean, der Bauernbursche, wird für einen kurzen Sommer auf der Alm ihr Geliebter: immer in der Furcht, die Kumpel im Dorf könnten erfahren, daß er mit der Cockatrice . . . Im Herbst sucht er das Weite. Bis nach Argentinien treibt es ihn. Kurz vor Lucies Tod kehrt er zurück. Ihren Heiratsantrag kann er nicht annehmen, auch wenn sie jetzt reich ist und er arm. Erst nach dem Tod beginnt Lucie Cabrols drittes Leben: ein glückliches. Jean gehört endlich ihr, sie baut sich ein Haus und verschwindet dann doch, unmittelbar bevor ihre weltlichen Wünsche in Erfüllung gehen.

John Bergers komplexe, gleichzeitig märchenhaft und realistisch wirkende Erzählung bringt das Ensemble des ThéÛtre de Complicité mit einfachen Mitteln auf die Bühne. Eine Schindelwand, die am Schluß bergrutschartig einstürzt, und der mit Torf bedeckte Boden beherrschen die Szene. Ein Tisch, Stühle, Bretter, Wannen und Eimer, viel mehr braucht diese Produktion nicht, um das Dorf und die Berge plastisch werden zu lassen. Wenn auch Lilo Baur als Lucie der Mittelpunkt des Stücks ist, wirkt doch immer die Gruppe als Ganzes. Und obwohl die Darsteller ständig die Rollen wechseln: mal Kind, mal Soldat, dann wieder Blaubeersträucher oder Kühe im Stall spielend, wirken die Figuren authentisch. Zum Zauber dieses Abends trug auch die eigenartige Sprachmischung aus Englisch, Schwyzerdütsch und Östreichisch bei. Standing ovations!

Iris Schneider