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„Taube können hören“ - und dann?

■ Gehörlose Schulkinder: Sollen sie in unserer Lautsprache getrietzt werden? Dürfen sie in ihrer Muttersprache, der Gebärdensprache aufwachsen? Fortschritte in der Hörgerätetechnik lassen einen alten Konflikt aufleben von Burkhard Straßmann

Sechs mal sechs ist??? Julia quält sich. Dann hebt sie die Hände und zeigt unsicher: 32. Der Lehrer schüttelt den Kopf und macht jene kleine Geste, für die ihn ein Polizeibeamter anzeigen würde: balla-balla, „Die bist durcheinander.“ Auch die anderen Kinder haben mit der Aufgabe Mühe. Die rhytmische Eselsbrücke „... ist der Lehrer noch so fleißig...“ ist den Schülern nicht zugänglich. Julia, Stephanie, Dimitri und die anderen besuchen die vierte Klasse der Bremer Gehörlosenschule. Und Multiplikation ist schon eine hochgradig abstrakte Übung. Über mehrere Köpfe hinweg erzählt Silvia Michaela lieber einen Witz – die Kaskade von schnellen Gesten bleibt dem Besucher leider unverständlich. Der Lehrer geht zu den Kindern, stößt sie an, schüttelt die Faust, führt einen Finger zum Mund und sagt: „Seid still! Ihr müßt schauen, was Marcello spricht!“

Wer hospitierend in den Unterricht von Jens Trinkhaus gerät, kann sich schwer der Faszination dieser Art von Schule entziehen. Mit offensichtlichem Spaß sind die sechs recht mobilen Kinder im Alter zwischen 9 und 12 bei der Sache; ihre Tische sind im Kreis aufgebaut, damit jeder dem anderen auf die Lippen und Hände schauen kann. Alle Fragen und Antworten, so ist der Grundgedanke des Unterrichts, sollen durch Gebärden und Laute ausgedrückt werden. „LBG“ nennen Fachleute diese Art der Kommunikation mit Gehörlosen – lautsprachbegleitete Gebärdensprache. Die Sprache der Gabärden ist phantasievoll und flexibel, bietet die Möglichkeit neuer Erfindungen und Kombinationen und wirkt sehr theatralisch. Lehrer Trinkhaus hätte das Zeug zu einem hervorragenden Clown – so differenziert und suggestiv kann er sich körperlich mitteilen.

Der Gebärden-Unterricht ist Gegenstand eines frisch entflammten Streites, der in Wahrheit so alt ist wie die Gehörlosenpädagogik selbst. Die Frage ist: Soll man den Gehörlosen mit allen Mitteln (und das heißt heutzutage: mit maximalem technischen Aufwand) die Sprache der Hörenden beizubringen versuchen? Oder soll man sie zunächst in ihrer ureigenen „Muttersprache“, der Gebärdensprache schulen? Vor zwanzig Jahren warb die Bremer Gehörlosenschule noch damit, daß in ihr als Tagesschule die Gebärden besser zu unterdrücken seien als in den umliegenden niedersächsischen Internaten. Die Gebärde galt als primitiv, unzivilisiert, als offensichtliches Zeichen einer schlimmen Behinderung und als Symbol für eine gescheiterte Integration in die Welt der Hörenden. In den 20er Jahren gab es Gehörlosenpädagogen, die ihren Zöglingen die Hände auf den Rücken banden.

Silvia redet wie ein Buch. Ihre Gebärdensprache ist sehr differenziert und schnell – das hat sie von ihren Eltern gelernt. Die sind auch gehörlos. Eine für die Entwicklung des Kindes ideale Voraussetzung. „Die hat alle geistigen Fähigkeiten,“ meint Jens Trinkhaus; er wendet sich gegen das überkommene Vorurteil gegenüber den „Taubstummen“, den „Doofen“, die oft als dumm und gewalttätig angesehen werden. „Dumm“ erscheinen sie allenfalls zwischen Hörenden – und gewalttätig, wenn ihnen nie die Möglichkeit der Differenzierung und der Konkfliktlösung angeboten wurde. Lautsprachlich wird gern und einigermaßen leicht zwischen „Du bist lieb“ und „Du bist böse“ unterschieden. Was dazwischen liegen kann, ist einem Gehörlosen über die gesprochene Sprache schwer zu erklären.

Marcello war ein schwieriges, wildes Kind. Er konnte das ganze Klassenzimmer auf den Kopf stellen. Zum Glück fand sein Lehrer eine Psychologin, die die Gebärdensprache beherrschte – eine große Ausnahme. An Marcello, einem heute eher unauffälligen Schüler, könne man studieren, „wie wichtig es ist, die Welt zu verstehen“, sagt sein Lehrer. Zum Glück machten die Eltern mit. Das ist nicht selbstverständlich. Der Schock, wenn sie erfahren, daß ihr Kind „taubstumm“ ist, ist schwer zu verkraften. Ihr sehnlichster Wunsch, berichtet der stellvertretende Schulleiter Reinhard Riemer, ist immer, daß das Kind normal sprechen möge – das erste windschiefe „Mama“ sei „wie ein Sechser im Lotto“. Wenn dann ein Lehrer kommt und sagt, die Eltern sollten die Gebärdensprache lernen, erfährt er oft vehemente Ablehnung – das bißchen Hoffnung wenigstens auf eine Spur Normalität ist bedroht. Viele Eltern trietzen lieber ihre Kinder jahrzehntelang mit der lautsprachlichen Methode.

Die lautsprachliche Methode, von deutschen Pädagogen entwickelt, wurde um die Jahrhundertwende in vielen europäischen Ländern zur Norm. In den USA dagegen entwickelte sich viel stärker die Gebärdensprache mit ihrer ganz eigenen Kommunikationskultur. Dort ist zum Beispiel im Fernsehen ein Gebärden-Dolmetscher völlig normal.

In den letzten Jahren erkannte man aber auch hierzulande, daß die lautsprachliche Methode für den Behinderten eine Menge Nachteile bedeutet. Mit ganz wenigen Ausnahmen bleiben lautsprachlich geschulte Gehörlose, was den Wortschatz, die sprachliche Kompetenz und das Selbstbewußtsein angeht, weit hinter solchen Gehörlosen zurück, die in ihrer „Muttersprache“ aufwachsen, zum Beispiel weil ihre Eltern ebenfalls gehörlos sind. Diese Kinder erfahren einen viel komplexeren Zugang zur Welt; in ihrer Muttersprache der Gebärden lernen sie, sich zu artikulieren, zu diskutieren und sich das Wissen der Großen anzueignen. Ihrer Behinderung, ihren Defiziten können sie eine in sich voll funktionierende kommunikative Welt entgegensetzen.

„Moito du schaun?“ formuliert Michael mühsam; „möchtest du schaukeln?“ fragt Vater den vermeintlich kranken Sohn; „Vater und Sohn“-Geschichten von l.o.plauen lieben die Kinder sehr. Mit Gebärden beschreiben sie, was sie auf der Overheadprojektion sehen, und versuchen gleichzeitig in einem merkwürdigen Singsang, sich in der Lautsprache zu artikulieren. Das ist anstrengend – aber manchmal schwirren richtige Worte durch den Raum: Mama, schlafen, komm her. Auch Gehörlosigkeit ist relativ: die einen haben noch irgendwie verwertbare Hörreste, andere können selbst mit einem Verstärker am Ohr nur Krach und Nichtkrach unterscheiden. Genau kontrollieren, was an Sprache aus seinem Mund kommt, kann keins von diesen Kindern. Sie sind darauf angewiesen, sich an bestimmte Druckverhältnisse zwischen Zunge und Zähnen zu erinnern oder an ein Gefühl der Reibung in der Kehle. „Nach den Ferien sprechen die Kinder schlechter,“ hat Konrektor Riemer festgestellt.

Der Streit der Methoden, der jahrzehntelang ruhte, entflammte vor zwei Jahren an einem Hamburger Schulversuch – an der Samuel-Heinicke-Schule läuft ein Versuch mit „bilingualem Unterricht“. Jeweils ein Lehrer unterrichtet in Lautsprache, ein zweiter in Gebärdensprache. Reinhard Riemer ist von dem Versuch begeistert. „Was wir immer wieder feststellen, ist hier konsequent weitergedacht; die Kinder bekommen eine ähnliche Chance wie die in einem gehörlosen Elternhaus.“ Besonders wertvoll: der Gebärdenlehrer spricht die DGS, die Deutsche Gebärden-Sprache, die von Linguisten als vollwertige Sprache angesehen wird. Die meisten Lehrer an Gehörlosenschulen beherrschen nur die recht synthetische, künstlich wirkende Lautsprachenbegleitende Gebärdensprache.

Der starke Auftrieb des lautsprachlichen Unterricht verdankt sich dem Fortschritt in der Hörgerätetechnik. Es ist heute möglich, ein „künstliches Innenohr“ zu implantieren, ein sogenanntes CI (Cochlear-Implantat). Ein winziges, mit Elektroden ausgerüstetes Gerät wird in die Hörschnecke eingepflanzt; es gibt akustische Signale direkt an den Hörnerv weiter. Das Wundermittel, über das die Presse jubelt: „Taube können hören“, wird am liebsten im Alter von drei Jahren eingesetzt. Die Operation kostet 30.000 Mark. Hinter der neuen Attacke gegen die Gebärdensprache wittert Konrektor Riemer denn auch den „medizinisch-technischen Komplex“ mit seinem vehementen wirtschaftlichen Interesse. Andererseits gibt Riemer zu: „Die Industrie hat erstaunlich aufgeholt.“

Aber: Was ist der Preis? Schon Dreijährige werden um ihre Muttersprache betrogen, denn die pädagogische Nachsorge der Cochlear-Implantation besteht auf absolutem Gebärdenverbot. Und der Erfolg? Der Gehörlose wird sich zeitlebens als defizitär empfinden, einem permanenten Anpassungsdruck unterliegen und doch nie richtig dazugehören. Reinhard Riemer hat den Fall eines 30jährigen gehörlosen Tischlers vor Augen, der mit Riesenanstrengungen einigermaßen sprechen und relativ unauffällig zu sein gelernt hatte. Er war „integriert“; doch eines Tages „rastete er aus“ und brauchte psychotherapeutische Hilfe. Kein Einzelfall: Schorse war im Fußballverein der prima Kumpel; nur hinterher beim Bier, beim Witzeerzählen, da hatte er nichts von. Er verließ den Verein. Aufgrund solcher Erfahrungen hat die Bremer Gehörlosenschule jetzt einen Fachdienst für solche „integrierten“ Gehörlosen gebildet.

In der Klasse 4 geht der Unterricht zu Ende. Auf zum „gesunden Frühstück“ (zwei zum O geformte Finger gehen vom Herzen aus). Jens Trinkhaus, der nie Lehrer werden wollte, ist hier gern Lehrer. Der Unterschied zur Regelschule: „Die Kinder kommen unheimlich gern hierher. Hier ist ihr Treffpunkt. Zu Hause versteht sie ja keiner.“

Notfalls sind die gehörlosen Schüler sogar bereit, für ihre Schule zu kämpfen. Im Klassenraum hängt ein Schild an der Wand, darauf sind ein durchgestrichenes Sparschwein und ein durchgestrichenes Ohr gemalt. Kein Bilderrätsel: eine Parole! Im letzten Sommer plante die Bremer Bildungsbehörde massive Einsparungen im Sonderschulbereich. Da gingen auch die Gehörlosen auf die Straße und demonstrierten. Mit ihrem Schild und der Bedeutung: „Kein Sparen bei den Gehörlosen!“

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