: Ziehväter der Verkehrslawine
Shopping Malls, Apollo-Garage und auch Häuser als US-Moderne: Im Ernst & Sohn Verlag ist ein Buch über „Visionäre & Vertriebene – Österreichische Spuren in der modernen amerikanischen Architektur“ erschienen ■ Von Jochen Becker
Ob es Angst war, die ihm bei der Rückkehr nach Wien zu schaffen machte, wurde Victor Gruen in den siebziger Jahren gefragt. 1938 hatte man den jungen jüdischen Architekten und Kabarettisten aus dem „Ostgau“ Österreich hinausgeworfen. Ach, wissen Sie, antwortete Gruen, so gefährlich ist es nun auch wieder nicht in New York bei Nacht, daß man allein deshalb nach Europa ziehen müßte ...
Es gab weder Empfangskomitees noch Wiedergutmachungswünsche, als einige der zahlreichen nach Amerika geflohenen Architekten sich wieder nach Wien zurückschlichen. Der als Erfinder von Shopping Malls und Stadtplaner international gefragte Victor Gruen durfte sich in Österreich nur mehr als Architekt mit c bezeichnen, da ihm die Wiener Architektenkammer die nationale Berufsbezeichnung qua Gerichtsverfahren absprach – 32 Jahre nach seiner ersten Verbannung.
„Visionäre & Vertriebene“, eine Dokumentation der gleichnamigen Ausstellung, die Anfang des Jahres in Wien zu sehen war, begibt sich erstmals umfassend auf die Spuren österreichischer Architekten, die zwischen 1911 und 1941 in die USA auswanderten oder dorthin vertrieben wurden. Diese Spuren sind nicht allein geographischer Art, sondern lassen sich an modernen Bauten in den Vereinigten Staaten ablesen. Durch das ausgebreitete Material an Entwürfen, Skizzen und Fotografien wird mit einem Teilbereich der Exilhistorie auch die Baugeschichte der Moderne korrigiert: „Was aber ... unterbrochen wurde, war nicht so sehr der Fortschritt der Moderne, sondern eben die fortschrittliche Kritik an der Moderne“, wird Friedrich Achleitner im Katalog zitiert.
Bis auf Richard Neutra waren die meist aus Wien kommenden Architekten keineswegs Wegbegleiter des vom Bauhaus stammenden, sich in Chicago und Massachusetts niederlassenden International Style, wie ihn die aus Deutschland stammenden Baumeister Gropius oder Mies van der Rohe vertraten. Mit ihrem sowohl sozialen als auch handwerklichen Erfahrungsschatz aus Wiener Werkstätten und Wiener Gemeindebau siedelten sich die Österreicher statt dessen in Los Angeles und New York an, um möglichst Siedlungsbau, Stadtplanung oder kulturhistorische Studien weiterzutreiben. Bezeichnenderweise errichtete keiner der österreichischen Exilanten einen Wolkenkratzer, sieht man vom vermutlich größten Gebäude der Welt ab, das Anton Tedesko als Montagehalle für die Apollo-Raketen in Cape Canaveral baute.
Schon um die Jahrhundertwende bildete sich bei Otto Wagner und Adolf Loos, den Vätern der Wiener Moderne, eine spürbare Amerika-Orientierung heraus, die in der ihr folgenden Generation – mit Richard Neutra, Rudolph Schindler oder Friedrich Kiesler als berühmtesten Vertretern – konkret umgesetzt wurde. Die ersten Reisenden muß man wohl als „visionäre“ Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen, neugierig auf die vielversprechende Modernität der ökonomisch angefeuerten USA. Doch viele der namenlosen Auswanderer verschwanden zwischen Weltwirtschaftskrise und New Deal in großen Architekturbüros, als Innen- beziehungsweise Möbeldesigner oder in Universitäten – manche für immer.
Auf der Flucht vor seinen europäischen Gläubigern begann die USA-Karriere des Lebemannes Joseph Urban recht fachfremd als Chefbühnenbildner des Boston Opera House. Berühmt wurde er allerdings mit dem Bau der New School of Social Research (1929 bis 1931), einer im Herzen Manhattans angesiedelten ambitionierten Volkshochschule, die vielen Exulanten als Schule beziehungsweise Lehrstätte diente. Anschließend lud man Urban gar als Repräsentanten linker progressiver US- Architektur nach Moskau ein, um einen Wettbewerbsentwurf für den riesigen Palast der Sowjets zu entwickeln. Der „bürgerlich-dekadente Inszenierungskünstler“ (Boeckl) hatte es von der Gestaltung des Wiener Kaiserjubiläumsfestzuges 1908 über die Stellung als Hausarchitekt des Zeitungsmagnaten Hearst bis zum niemals realisierten Planer einer modernisierten Sowjetunion gebracht.
Anton Tedesko betreute ab 1932 das Dyckerhoff & Widmann- Patent für leichte Stahlbetonüberdachungen. Mit Beginn des Krieges war er als Experte für Flugzeughangars unentbehrlich, baute im Kalten Krieg Silos für Interkontinentalraketen (davon zeigt das Buch keine Abbildungen!) und empfahl sich hiermit für den Bau des 160 Meter hohen Apollo-Montagegebäudes, das in seiner Überdimensionalität experimentelle Züge trug.
Bernhard Rudofsky wurde 1944 mit der skandalträchtigen MOMA-Ausstellung „Are Clothes Modern?“ bekannt, wobei er sich gegen Kleidung wehrt, die vorrangig der „geschlechtlichen Selektion“ diene. 20 Jahre später präsentierte seine in 84 Museen und über insgesamt zwölf Jahre lang herumreisende Ausstellung „Architecture without Architects“ kulturelle Studien zur sogenannten spontanen Architektur, wie er sie fern der Industrieländer auffand.
Liane Zimbler war die einzige Frau unter den „Visionären & Vertriebenen“. Sie erstellte auf bürgerliche Kunden zugeschnittene, praktische Wohnungsveränderungen bis hin zum komplett abwaschbaren Wohnzimmer – oder einer Klettwand, bei der ein Austausch von Bildern keine Nagellöcher hinterläßt. Die Geschlechterrollen blieben klar verteilt: Der männliche Architekt baute die Hülle; die (Innen-)Architektin sorgte für den wohnlichen Komfort. Trotz Arbeit bis ins hohe Alter – sie starb 1987 – hat sie ihr Geburtsland nie mehr betreten.
Der eingangs erwähnte Victor Gruen war zu erfolgreich, um übergangen zu werden. 1963 lud man ihn neben Adorno, Neutra, Gehlen und Jungk zum Vortrag ins Wiener Rathaus. Der als Grünbaum Geborene arbeitete immer wieder gemeinsam mit dem Studienkollegen Rudolf Baumfeld; ihre frühen Entwürfe signierten sie mit „Grünbaumfeld“. Die im Exil aufgebaute Firma Victor Gruen Associates hatte über 300 Mitarbeiter und war mit dem Bau von innovativen Geschäftslokalen, Entwicklungen des „National Highway System“ oder der Erfindung von Shopping Malls mit Parkplätzen auf dem Dach und Schaufensterauslagen für vorbeieilende Autofahrer ausgelastet. Das Mitte der fünfziger Jahre erbaute Southdale Center in Minneapolis rangiert immer noch in den Top ten der amerikanischen Einkaufszentren.
„Ich machte mir damals [in den vierziger Jahren; Anm. d. Red.] noch keine Gewissensbisse, daß ich Mitschöpfer der amerikanischen Autoverkehrslawine wurde.“ Im Unterschied zu Europa zogen die Großmärkte den Vorstädtern hinterher, statt wie in Europa die Innenstädte durch Magneten auf der grünen Wiese auszutrocknen. Dennoch entwickelte Gruen mit „A Greater Fort Worth Tomorrow“ ein Projekt zur Revitalisierung der Innenstadt, welches Elektrobusse, Citygaragen, aufgefächerte innerstädtische Funktionsvielfalt und ein unterirdisches Anlieferungssystem vorsah. Die „Gruenisierung“ war zu Beginn der siebziger Jahre auch innerhalb des Wiener Rings gefragt, scheiterte allerdings ebenso halbherzig wie vorher schon in Fort Worth.
Dank großer Bauprojekte sammelte der Teamarbeiter und Kommunikator Erfahrungen im komplizierten Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft: Als die Präsidentengattin Ladybird Johnson von Gruen eine Begrünung Washingtons erwartete, führte er sie statt dessen durch die Slums der Hauptstadt. Der Urbanist entwickelte städtebauliche Perspektiven statt architektonischer Details. So sollten Einkaufszentren mit Wohnungen und Arbeitsstätten zu kompakten Stadtvierteln („Cellular Metropolis“) verknüpft werden, was in den USA jedoch an fehlender Durchsetzungskraft der durch den deregulierten Kapitalismus geschwächten Kommunalverwaltungen scheiterte. Erst unter de Gaulles zentralistischer Planungsgewalt konnten die von Gruen entwickelten Entlastungsstädte („Nouvelles Villes“) rund um Paris später auch realisiert werden.
Matthias Boeckl (Hrsg.): „Visionäre & Vertriebene“, Ernst & Sohn Verlag, 370 Seiten, ca. 98 Mark. Zur Frankfurter Buchmesse soll eine CD-ROM erscheinen.
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