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Epizentrum Reichstag

■ "Vulkane in Berlin" - eine etwas durchgeknallte Stadtrundfahrt zu ausbrechenden Lavaströmen / Der Fall der Mauer war nur ein Zusammenstoß zweier Kontinentalplatten

„Fahren Sie auch zu den Vulkanen?“ Eine Unbekannte fragt mich in geheimnisvollem Ton und geht lächelnd weiter. Es ist 18 Uhr und ich sitze auf einer Parkbank vor dem Martin-Gropius-Bau. Der Ätna ist weit, und ich habe nur eine Einladung voller rätselhafter Skizzen und Bilder in der Hand.

Kurz danach kann ich aus einiger Distanz beobachten, wie sich auf der anderen Seite des Baus eine Gruppe vor einem Reisebus versammelt. Als ich dazustoße, herrscht stumme Erwartung. „Vulkane in Berlin“ heißt die ominöse Stadtrundfahrt, die diese Versammlung verursacht hat. Ohne Erklärung. Nur ein kleines Schild „Achtung Baustelle“ gibt einen Hinweis darauf, wohin die Reise gehen soll. „Berlin bricht auf“, rezitiert Multimediakünstlerin Valeska Peschke aus einer Art Gedichtcollage ins Mikrophon. „Am 9. November 1989 gleicht das Zusammentreffen von West- und Ostberlin dem Zusammenstoß zweier Kontinentalplatten. Seitdem bestimmen Ausbrüche und Beben vor allem den Ostteil Berlins. Die Topographie ändert sich. Brachflächen werden unvermittelt zu Erdaufschüttungen. Baulücken zu Vertiefungen. Ein Gebirge aus Vulkanen manifestiert sich, breitet sich aus.“ Aha.

Der Busfahrer lenkt die erstaunten Fahrgäste behutsam durch den aufgerissenen Asphalt. An der Wilhelmstraße, einem heißen Pflaster, warnt die poetische Reiseleiterin: „Schauen Sie sich diese Straße an, bevor der Spalt aufbricht! Vulkane schlafen Jahrhunderte. Eines Nachmittags, plötzlich, bricht es auf.“

Valeska Peschke sieht überall Vulkanmünder, Brocken, Magmaströme, erstarrten Gesteinsfluß, Schotten, Schollen, Schlöte. Vielleicht sieht sie auch nicht durch. Baucontainer verwandeln sich in Lavacontainer, Bauarbeiter in Lavaarbeiter. Gebäudeumhüllungen bieten Schutz vor Gluthitze, in den Häusern der Spandauer Vorstadt hängt staubgraue Asche. Die Fassaden der Tucholskystraße sind von Explosionen zersplittert.

„Riechen Sie die aufgewühlte Erde? Baukrater. Durch den vielen Regen ist die Erde morastig. Fauliger Geruch aus der Tiefe. Vulkanimpuls.“ Wir sind ausgestiegen. Vorbeigefahren am Alex, der Meßlatte für Lavaströme, befinden wir uns nun in der Nähe des Epizentrums: der Reichstag. Vom Sandhügel eines Bauplatzes soll jeder in einem Pappkarton Steinbrocken sammeln. Auf dem Pappdeckel klebt eine Fotomontage vom Gropius-Bau vor schwarzem Geröll.

Stolz halten die TeilnehmerInnen ihre Sammlung in die Kamera. Sie haben immerhin gerade einer Performance beigewohnt. Aktionskünstlerin Valeska Peschke wirkt schon seit drei Jahren in Berlin, äh, in der vulkanischen Stadt.

Ab August bietet das Kultur- und Kunstbüro Berlin diese Stadtrundfahrt regelmäßig an. Vorsicht: Am Märkischen Museum wird die innere Glut im Bus fast unerträglich. Anja Sieber

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