: Der Herr mit Koffer
■ Frankreichs neuer Präsident Jacques Chirac wacht jetzt auch über die Atombombe
Paris (taz) – Colombey-les- deux-Églises schlief ahnungslos, als gestern morgen der neue Präsident mit seinem Hubschrauber einflog, um das Grab von General Charles de Gaulle zu besuchen. Stunden bevor er von seinem Amtsvorgänger in die bestgehütetsten Geheimnisse der Republik eingeweiht wurde, die er in den nächsten sieben Jahren führen wird, legte Jacques Chirac ein blauweißrotes Bukett auf der Gedenkstätte für seinen politischen Ziehvater nieder. Zehn Minuten blieb er allein auf dem Friedhof des kleinen lothringischen Ortes, wohin die Neogaullisten alljährlich am 18. Juni pilgern – dem Jahrestag von de Gaulles legendärem Londoner Aufruf von 1944 zum Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Der Aufruf markierte den Beginn der Résistance und die Rettung der französischen Ehre vor der Geschichte.
Zurück in Paris, stieg Chirac um Punkt elf Uhr die mit rotem Teppich belegte Treppe zu jenem Palast empor, den vor ihm de Gaulle, Valéry Giscard d'Estaing und François Mitterrand bewohnt haben. Ein schwarzer Citroän hatte den neuen Präsidenten im Schrittempo mit großer Polizeieskorte durch die Innenstadt gefahren. Gelegentlich reckte sich Chiracs große Hand aus dem Seitenfenster, um jubelnden Menschen am Wegesrand zuzuwinken. Dann verschwand der erste Gaullist, der seit 21 Jahren in den Elyseé-Palast einzog, mit dem ersten Sozialisten, der dort in den vergangenen 14 Jahren residiert hat.
Wichtigstes Thema des einstündigen Gesprächs: Der Geheimcode für die französische Atombombe, den neben dem jeweiligen Präsidenten nur zehn weitere Sterbliche kennen. Der mit Elektronik prall gefüllte Aktenkoffer, der jederzeit den Kontakt zu der Kommandozentrale ermöglichen soll und der in den vergangenen Jahren stets von einem Uniformierten hinter Mitterrand hergetragen wurde, wird fortan Chirac begleiten. Den Code haben die französischen Präsidenten bislang entweder um den Hals (de Gaulle), in der Weste (Giscard) oder auf mehrere Personen verteilt (Mitterrand) aufbewahrt.
Nach dem Vier-Augen-Gespräch stieg der frischgebackene Pensionär Mitterrand die rot ausgelegte Treppe zu dem wartenden Wagen hinab und ließ sich dorthin zurückfahren, wo er 14 Jahre zuvor hergekommen war – in die Parteizentrale der Sozialisten. „Ihr seid nun eine große Oppositionpartei“, sagte er den zahlreichen Genossen, die ihn dort mit roten Rosen erwarteten.
Sein 62jähriger Nachfolger hielt derweil mit leicht angespanntem Gesicht seine Antrittsrede im Festsaal des Palastes, gab sein Antrittsessen und bereitete sich auf seine Antrittsfahrt im offenen Cabrio zum Arc de Triomphe vor, wo er am Nachmittag einen zweiten Blumenkranz am Grabmal des unbekannten Soldaten niederlegen wollte. Dann nominierte er seinen Premierminister. Die große Wende Frankreichs hat begonnen. Dorothea Hahn
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