: „Die Mannschaft lebt“
Durch ein 20:17 gegen Titelverteidiger Rußland erreichten die deutschen Handballer das WM-Halbfinale / Russen legten Protest ein ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Arno Ehret ist gelernter Mathematik- und Sportlehrer, was ihn eigentlich als eher nüchternen Menschen ausweist. Gelegentlich offenbart er jedoch einen Hang zu tiefsinnigen Betrachtungen, die fast an Mao Tse- tung gemahnen. „In hundert Tagen weiß ich mehr, wenn ich das Gebirge bestiegen habe, das noch vor mir liegt“, sagte er, als es der Deutsche Handball-Bund (DHB) 1993 endlich geschafft hatte, ihn als Bundestrainer zu verpflichten.
Doch der Aufstieg ins Gebirge führte erst mal stracks nach unten. Letztes Jahr bei der EM 1994 spielte Ehrets Team meist konfus und landete auf Platz neun. Für einen anderen Trainer wäre das vermutlich schon der Abschied gewesen, nicht aber für Arno Ehret, den legendären Linksaußen, der mit seinen Toren maßgeblich zum nicht minder legendären WM-Gewinn 1978 beigetragen hatte. Drei Jahre, hatte der Mathematiker Ehret von vornherein kalkuliert, würde der Weg zurück in die Weltspitze dauern, exakt ausgedrückt: bis zu den Olympischen Spielen 1996. Bei der Weltmeisterschaft in Island sollte die erste Etappe des langen Marsches nach Atlanta zurückgelegt werden. „Die Olympia- Fahrkarte ist Pflicht, eine Medaille unser Ziel“, gab der 41jährige als Devise aus.
Nach dem spektakulären 20:17 im Viertelfinale gegen Titelverteidiger Rußland ist die Qualifikation für Atlanta geschafft, eine Medaille nahe, der Titel keine pure Utopie mehr. Im heutigen Halbfinale geht es gegen Frankreich, das in der Vorrunde knapp mit 23:22 besiegt wurde, im anderen Semifinale stehen sich Favorit Schweden und Kroatien gegenüber.
Ein schier unüberwindlicher Torwart-Veteran Andreas Thiel und eine herausragende erste Halbzeit des deutschen Teams waren die entscheidenden Faktoren im „emotional seltsamen Spiel“ (Ehret) gegen die Russen, das beide Trainer auf der Tribüne beendeten. Der sonst so besonnene Ehret sah wegen aufgeregten Reklamierens schon in der 14. Minute die rote Karte, sein Kollege Wladimir Maximow folgte in der 54. Minute. Bei Halbzeit führte das deutsche Team mit 12:7, danach lief erst mal gar nichts mehr. 13 Minuten gelang kein einziges Tor, nur den großen Paraden des 35jährigen Thiel war es zu verdanken, daß Rußland nicht davonzog. „Bis zum 15:15 habe ich geglaubt, wir verlieren das Spiel. Oh, was sind wir gut“, zeigte der Keeper nach dem 20:17 gelinde Euphorie.
Die Russen haderten allerdings heftig mit den Schiedsrichtern. „Meine Spieler weinten in der Kabine, weil die Schiedsrichter die Deutschen eindeutig bevorteilt haben“, verkündete Coach Maximow. Es blieb nicht bei Tränen. Der russische Verband legte Protest ein, weil es die Referees nach der roten Karte für Ehret unterlassen hatten, regelgemäß einen deutschen Spieler für zwei Minuten hinauszustellen. Der Protest wurde noch gestern (nach Redaktionsschluß) verhandelt.
Nach dem Sieg hagelte es Lobeshymnen von allen Seiten. „Die Geburtsstunde einer großen deutschen Mannschaft“ beschwor Vlado Stenzel, Weltmeister-Coach von 1978, und Anatoli Jewtuschenko, ehemaliger Trainer der UdSSR, verstieg sich gar zu der Behauptung: „Diese deutsche Mannschaft ist stärker als die von 1978.“ Im Zentrum der Jubelchöre steht natürlich Arno Ehret, dem es vor allem gelungen ist, seinen Spielern Teamgeist, Selbstbewußtsein und taktische Disziplin einzuflößen. Wurde früher häufig hektisch bis panisch agiert, ist jetzt Ruhe oberstes Gebot. Wer unüberlegt handelt, hat bei Ehret wenig Chancen. „Wir drücken dem Spiel den Stempel auf, nicht der Gegner“, hat Volker Zerbe bemerkt, und Ehret ergänzt: „Wir haben vor jedem Gegner Respekt, aber keine Angst. Die Mannschaft lebt.“
„Die Mannschaft“ ist für Arno Ehret der Faktor, um den sich alles dreht. „Die Grundwerte müssen stimmen. Dann ist es egal, ob einer im Team einen Knopf im Ohr hat oder Exoten schillern, wie sie wollen.“ Knopf im Ohr und Exot in Personalunion ist Stefan Kretzschmar, einst Jugendmeister mit Dynamo Berlin. Der auffällige 21jährige, der bei der Bundeswehr ein Disziplinarverfahren bekam, weil er einen Haarschnitt verweigerte, und der nicht bereit ist, die DDR in Grund und Boden zu verdammen, stieß anfangs auf breite Ablehnung in der Nationalmannschaft. Ehret schaffte es, den Gummersbacher Star zu integrieren, und in Island präsentiert er sich als einer der weltbesten Linksaußen. „Kretzsche ist ein Spieler, der die Ware Handball transportiert“, bringt es Ehret auf einen kapitalistischen Nenner.
In der Tat ist es nicht zuletzt die Ware Handball, die Ehret und sein Team zum Siegen verdammt. Der größte Teil der WM-Sponsoren wird von deutschen Unternehmen gestellt, Fernsehzeiten bringen Geld in die Kasse des DHB. Der sportliche Erfolg bei der WM und vor allem bei Olympia wird dringend benötigt, um das Überleben der etwas antiquierten Sportart Handball zu sichern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen