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Nicht alle VeteranInnen jubeln

■ betr.: „Moskau feiert den gerech ten Sieg“, taz vom 10. 5. 95

Rußlandfahrer im eigenen Auftrag bewegen sich dort in der Masse des einfachen russischen Menschen und erfahren so Informationen, die sich bisweilen erheblich von denen unterscheiden, die in der offiziellen Tagespresse zu lesen sind. So traf ich auf Veteranen, die diesen Jubel und Zauber nicht mitmachen würden. Denn sie haben all die Kameraden vor Augen, die hinterrücks von den eigenen Leuten beim Zurückweichen vor den deutschen Linien auf Befehl der Politkommissare erschossen wurden. Und so, wurde mir geschildert, vollzog sich in der Regel der russische Sturm auf eine deutsche Verteidigungslinie:

Die erste Reihe wurde vor dem Sturm mit Wodka vollgepumpt. Sie rannte so alkoholisiert auf die deutsche Linie zu und wußte, daß die zweite Reihe hinter ihr die Maschinenpistolen und Maschinengewehre im Anschlag hielt, um die Zurückweichenden rücksichtslos zu erschießen. Über das konforme Verhalten der zweiten Schützenreihe wachten mit gezogener Pistole die allmächtigen Politkommissare. Ein Menschenleben galt beim Zaren im Ersten Weltkrieg genauso wenig wie in der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg.

Es ist zweifellos verdienstvoll, daß die Rote Armee den Hitlerfaschismus zerschlug. Aber hat sie aus den grausigen Bildern, die ihnen dieser unbeschreiblich perverse Faschismus bot – KZs, Massengräber von wehrlosen, unschuldigen Zivilisten, Auslöschung Hunderter von Ortschaften –, die richtigen Lehren für die Zeit nach dem Krieg im eigenen Lande gezogen, wo ungebrochen der Stalinterror durch Massenmord und Folter sich fortsetzte? So daß Solschenizyn 60 Millionen durch Russen ermordete, verhungerte, zu Tode gefolterte Russen recherchierte. Nahezu dreimal soviele Opfer, wie der Hitlerfaschismus diesem gequälten Volk abverlangte.

Wann endlich beginnen die damaligen Alliierten – wir dürfen uns da nicht zu weit aus dem Fenster lehnen –, dem ehemals russischen Verbündeten die Vergangenheitsbewältigung so drastisch nahezulegen wie uns nach dem 8. Mai 1945? Wann endlich werden die dort noch lebenden Massenmörder zur Verantwortung gezogen? Solange Restrußland noch zögert, der eigenen lange noch nach Ende des Zweiten Weltkrieges praktizierten ideologisierten Unmenschlichkeit rückhaltlos ins Auge zu schauen, wird sich in diesem Lande nichts ändern.

An die Stelle der ideologischen Massenmörder von einst sind nun die mafiösen Brutalokiller in reibungsloser Kooperation mit der Administration getreten, mit deren Vertretern unsere Staatslenker sich freundschaftlich verbunden fühlen. Die halbseidene Verurteilung des Tschetschenien-Krieges durch unsere Regierung ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie wenig ein Menschenleben hüben wie drüben zählt. Solange mit dieser Einstellung allerorten regiert wird, wird dem politischen Mord, dem Selbstbetrug und der Lüge Tor und Tür geöffnet bleiben. Auch in diesem Falle gilt die alte Volksweisheit: Ein Sieg über sich selbst ist mehr wert als tausend Siege im Felde.

Wenn sich Rußland endlich durchgerungen hat auf Grund der Erfahrung seiner mörderischen Selbstverstümmelung zu einer menschlich aufrichtigen, toleranten Politik, in der auch der Schwächste als unendlich wertvoll geachtet und gewürdigt wird, wenn parallel dazu eine ökologisch orientierte Sachlichkeit in allen Wirtschaftsbereichen und technischen Vorgängen der Vorrang eingeräumt wird, dann erst ist der Sieg über Deutschland vollständig gelungen. [...] Friedrich Bode, Pastor i.R.,

Oyten

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