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Aura des Grauens

Abstiegsängste trotz Freizeitkultur: Das Münchner Stadtmuseum zeigt die Welt der Angestellten  ■ Von Jörg Lau

Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich kam vom Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, daß es noch viel früher war, als ich geglaubt hatte, ich hatte noch sehr viel Zeit, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden. Ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus. Glücklicherweise hatte ein Cafe schon geöffnet, ich ließ mich mit Blick auf den Marienplatz plazieren und bestellte ein großes „Münchener Frühstück“. Da kamen sie, die Angestellten: Ordentlich angezogen, frische Sommerfarben, die müden Gesichter noch nicht auf Nettigkeit umgestellt, manche noch im Halbschlaf, Traumreste aus der ersten Zigarette saugend. Die Herren trugen unauffällige Kombinationen, kombiniert mit Krawatten von so auffallendem Muster, daß man sie nach der zweiten oder dritten Variante kaum noch wahrzunehmen vermochte. Sie sind noch nicht ganz da, aber gut sehen sie aus, besser denn je, sie haben gewonnen.

Der U-Bahn-Schacht entließ sie stoßweise auf den Platz vor dem Rathaus, auf ihr ureigenes Terrain im Herzen der weitläufigen Fußgängerzone. Die Arbeiter waren schon lange vor ihnen dagewesen. In kleinen Trupps hatten sie die Nacht durchgearbeitet, die Gehwege mußten ausgebessert werden, bevor die Angestellten, wie es jeden Morgen in jeder unserer Städte zu geschehen pflegt, sich das blanke, menschenleere Gehäuse der Innenstadt, das heute ihnen allein gehört, aufs Neue anzueignen begannen. Die Arbeiter würden jetzt langsam verschwinden müssen, sie störten den Lauf der Dinge in der Angestelltenwelt mit ihrem Schmutz und ihrem Lärm. Denn jetzt kamen auch schon die Touristen in Ladungen zu etwa zwanzig, auch sie Angestellte, wenngleich vermutlich in Tokyo oder Osaka.

„Berlin“, heißt es im Vorwort eines meiner heiligen Bücher, einer Schlüsselschrift der Moderne, sei „zum Unterschied von allen anderen deutschen Städten und Landschaften der Ort, an dem sich die Lage der Angestelltenschaft am extremsten darstellt.“ Der Satz, auf die späten zwanziger Jahre gemünzt, gilt nicht mehr. Heute, nach dem historischen Sieg der Angestelltenschaft, sind alle unsere großen Städte ausgesprochene Angestelltenstädte, Köln, Hamburg, selbst die städtische Agglomeration namens Ruhrgebiet — und zumal Frankfurt. Das arme, rückständige, schwerfällige Berlin wirkt dagegen stellenweise wie die letzte Bastion der beiden sozialen Kräfte, gegen die sich die Angestelltenschaft auf ihrem langen Weg nach oben stets hat profilieren müssen — des Bürgertums, vor allem aber des Proletariats, das überall sonst unsichtbar geworden ist.

Das Stadtmuseum in unmittelbarer Nähe zur Münchener Fußgängerzone ist also kein schlechter Ort für die Ausstellung über die Angestellten. Wer hier aufmerksamen Auges dem Rundgang folgt, der Genese und Struktur der Welt der Angestellten zu erschließen versucht, um dann wieder in die unentrinnbare Wirklichkeit der Angestelltenwelt draußen zurückzukehren, der wird einen dürren Satz aus dem Katalog durch die sinnliche Erfahrung widerlegt finden: Der Arbeiter sei im Vergleich zu dem „kleinen“ Angestellten freilich die geschichtsmächtigere Gestalt gewesen, heißt es da irgendwo ganz fromm und altlinks. Für das 19. Jahrhundert mag der Satz gestimmt haben, als heutiges Resümee ist er offensichtlich falsch.

Siegfried Kracauers Studie „Die Angestellten“ — das heilige Buch, von dem oben die Rede war, war bereits gegen die linke Präokkupation mit der Arbeiterschaft gerichtet, an der noch alle Hoffnungen hingen. Der Arbeiter hatte ein Klassenbewußtsein (oder man würde es ihm beibringen können, denn seine wirklichen Interessen waren ja danach), der Angestellte hatte Flausen im Kopf. Von den Herrschaften gehätschelt, sehnte er sich nach Höherem und war zugleich von einer Abstiegspanik bestimmt, die seinen Wunsch nach Distinktion von denen ganz unten noch verstärkte.

Kracauer hat diese Zwischenlage beschrieben. Er hat ihre kapillaren Wirkungen in den kleinsten Details des Angestelltenalltags aufgespürt. Er hat die Angestellten in den Kaufhäusern, in den Banken, in den Kneipen und Parfümerien besucht, er hat ihre Schlager mitgeträllert, ihre Filme gesehen und ihnen zugehört, wenn sie von ihrer Sportbegeisterung und ihren Weekends sprachen.

Die Notizen seiner Recherche kann man in München jetzt in einem Glaskasten bewundern. Hastig beschriebene Zettel bezeugen die Faszination des Beobachters, der im doppelten Sinne ein „teilnehmender“ war: er war einer neuen sozialen Formation auf der Spur, deren Leben sich vor aller Augen im Zentrum der Gesellschaft abspielte und das doch „unbekannter als das der primitiven Völkerstämme“ schien — und er war selber Angestellter gewesen, zunächst als Architekt, dann als Journalist. Die Münchner Ausstellung ist vor allem eine Hommage an Kracauer. Sie folgt über weite Strecken seinen Anregungen, und darin liegen ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich begründet.

Es wird Zeit, daß „Die Angestellten“ in den Kanon der klassischen Literatur der Moderne aufgenommen werden, und diese Ausstellung wird dazu vielleicht beitragen. Keiner der Katalogbeiträge kommt ohne ein Kracauer-Zitat aus. Man hat sogar eine Passage aus dem Buch szenisch umgesetzt: „Daß den (Schreib-) Maschinen so gern Mädchen vorgesetzt werden, rührt unter anderem von der angeborenen Fingergeschicklichkeit der jungen Dinger her, die freilich eine zu weit verbreitete Naturgabe ist, um ein hohes Gehalt zu rechtfertigen. Als es dem Mittelstand noch besser ging, fingerten manche Mädchen, die jetzt lochen, auf den häuslischen Pianos Etüden. Ganz ist immerhin die Musik nicht aus jenem Rationalisierungsprozeß geschwunden. Ich weiß von einem Industriewerk, das die Mädchen mit einem Gehalt vom Lyceum wegengagiert und sie durch einen eigenen Lehrer auf der Schreibmaschine ausbilden läßt. Der schlaue Lehrer kurbelt ein Grammophon an, nach dessen Klängen die Schülerinnen tippen müssen.“ In einem Glaskasten, der an die aquarienhaften Bauten aus Großraumbüros erinnert, in denen der Abteilungsleiter residierte, lassen die Ausstellungsmacher nun das alte und das neue Instrument der Mittelklasse-Mädchen miteinander Zwiesprache halten.

Kracauers Buch, der Bericht von seiner Expedition in die „Exotik des Alltags“, beschrieb den Zusammenhang der „geistigen Obdachlosigkeit“ der Angestellten mit ihrem „Kult der Zerstreuung“ in den Kinos, Kabaretts und am Wannsee, nachmals eine klassische Figur der ideologiekritischen Rhetorik: Du darfst auch Entfremdung zu mir sagen. Man muß hier den Hintergrund mitbetrachten, um zu verstehen, warum uns diese Seite des Kracauerschen Unternehmens nicht mehr so viel angeht. Die Kritik ist damals noch getragen von der Hoffnung, mit der Verschlechterung der Verhältnisse, mit der schleichenden Proletarisierung könne das „falsche Bewußtsein“ der Angestellten eines Tages der wahren Erkenntnis ihrer Lage weichen.

Es kam bekanntlich anders. Nicht das Ineinsfallen des proletarischen und des Angestellten-Klassenbewußtseins hat sich als der Weg erwiesen, sondern eben jene Jagd nach den „feinen Unterschieden“, jener Wunsch nach Differenzierung, den man den Angestellten als ihre Rückständigkeit ausgelegt hat. Differenz, nicht Identität ist das Motiv, das unsere Gesellschaft am Laufen hält. Verheißung und Verhängnis der Angestelltenexistenz, von Kracauer noch melancholisch-kulturkritisch beschrieben, aber eben immerhin beschrieben, sind das Gesetz des Handelns für alle geworden.

Die Münchener Ausstellung hält sich sehr an die Spanne dessen, was mit Kracauers Buch vorgegeben ist. Die in dieser sehr liebevoll aufgebauten Inszenierung präsentierten Vergnügungsstätten, Privaträume, Büros gehören zum überwiegenden Teil einer verflossenen Epoche an. Man kann eine Menge über die Entdeckung der Angestellten lernen und über die Schwierigkeit, sie zur Kenntlichkeit zu bringen.

Unter den Exponaten sind es, wie auch beim Kracauer-Lesen die kleinen Details, in denen Furcht und Hoffnung des Angestelltenlebens aufscheinen. Zum Beispiel in dem Knopf von der Uniform eines AEG-Pförtners, einem Prachtstück, dessen silberner Glanz mit Gravur die Autorität gegenüber den zu kontrollierenden Arbeitern markiert und zugleich zeigt, daß sein Träger den Herren dieses Betriebes unterstellt war wie irgendein Soldat seinem Offizier. Oder das Tischtelefon aus dem „Resi“, einer jener Berliner Pläsierkasernen. Hier konnte der Angestellte die gleiche Maschine, durch die der Chef ihn tagsüber schurigelte, abends zu seinem Vergnügen mit den Damen benutzen — auch eine Art Therapie.

Es bringt einen auf Ideen, zwischen diesen Dingen herumzulaufen, und dann beginnt man sich zu wünschen, die AusstellungsmacherInnen hätten den Mut besessen, ein wenig weiter zu gehen und nicht nur die gut abgehangene Angestelltenkultur vergangener Zeiten zu erkunden. Kracauer schreibt in seiner Studie von dem aller Banalität zuwiderlaufenden Eindruck, als seien die Angestellten „in eine Aura des Grauens gehüllt. Sie strömt von den verwesten Kräften aus, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Ausweg gefunden haben.“ Eine solche Aura des Grauens liegt heute nicht mehr über den Pläsierkasernen von damals, dem untergegangenen „Haus Vaterland“ und dem „Moka-Efti“, die in der Ausstellung wiedererstehen. Dazu können wir uns längst nostalgisch verhalten.

Es käme aber darauf an, die Stätten unserer Angestelltenkultur, die Musicaltheater, den Club Méditerranée, die Shopping Malls mit dem für ihr besonderes Grauen offenen Blick zu beschreiben, den man bei Kracauer lernen kann.

„Großstadtmenschen. Die Welt der Angestellten.“ Noch bis zum 20. August im Münchner Stadtmuseum. Der gleichnamige Katalog ist bei der Büchergilde Gutenberg erschienen.

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