: Belgien wartet auf die braune Flut
■ Bei den Parlamentswahlen in Belgien werden Rechtsextreme zulegen / Flämische Extremisten hetzen gegen Wallonen – die ihrerseits fürchten den Untergang
Brüssel (taz) – Dutzende von Kamerateams durchforsten in diesen Tagen die belgische Hafenstadt Antwerpen nach Hakenkreuzen, Nazischmierereien und anderen filmbaren Zeichen braunen Gedankenguts. Seit den Kommunalwahlen im Oktober 1994 gilt Antwerpen als rechtslastigste unter den europäischen Großstädten: 28 Prozent der Bürger stimmten für die flämisch-nationalistische Hetzpartei Vlaams Blok. Bei den Parlamentswahlen an diesem Sonntag werden es vermutlich noch mehr werden.
Belgien steht vor historischen Wahlen – nicht so sehr, weil das ganze Land weit nach rechts driften wird, sondern weil die Bürger zum ersten Mal auch die Regionalparlamente der 1989 eingerichteten autonomen Bundesländer Flandern, Wallonien und Großraum Brüssel direkt wählen. Neben den Wahlzetteln für Bundes- und Regionalkammern bekommt jeder Belgier einen dritten Stimmzettel, mit dem er über die Zusammensetzung der Sprachversammlungen entscheidet. Jede anerkannte Volksgruppe hat ihre eigene – die Deutschen im Osten, die Flamen im Norden und die Wallonen im Süden.
Um den Dauerkonflikt zwischen den niederländischsprechenden Flamen und den französischsprachigen Wallonen zu entspannen, löst sich das Land in seine Bestandteile auf. Einigen geht das nicht schnell und nicht weit genug. „Belgie barst!“ schreien Abgeordnete des Vlaams Bloks bei Debatten im Bundesparlament: „Belgien soll zerbrechen!“ Vielen flämischen Wählern scheinen solche Parolen zu gefallen. Auch die traditionellen Parteien in Flandern haben sich längst darauf eingestellt: Die regierenden flämischen Christdemokraten machen um das Wort „belgisch“ inzwischen einen großen Bogen, um nicht in den Verdacht zu geraten, Sympathien mit den Wallonen zu hegen. Flämisch sind die Symbole, flämisch ist die Hymne, flämisch sind die Reden. Da wagt auch die kleine Sozialistische Partei Flanderns nicht mehr, mit ihren wallonischen Genossen zu marschieren. Gemeinsam haben die beiden sozialistischen Parteien nur noch, daß sie sich vor Jahren vom selben italienischen Rüstungskonzern haben schmieren lassen und deshalb jetzt mit herben Stimmenverlusten rechnen.
Reiche Flamen, arme Wallonen
Um den tieferen Ursachen für das belgische Dilemma auf den Grund zu gehen, ist Antwerpen wohl der falsche Ort. Die Antwerpener Bürger zählen zu den wohlhabenderen im Lande. Die Probleme, vor denen sie sich fürchten, sind anderswo: in den heruntergekommenen Industriestädten im Süden, wo Verfall und Hoffnungslosigkeit das Bild bestimmen – zum Beispiel Charleroi: In dieser wallonischen Stadt wurde, solange Kohle und Stahl in Europa noch einen Wert hatten, das Geld produziert, mit dem die französischsprachigen Wallonen lange dem gesamten Belgien ihren Stempel aufdrückten. Die Schwerindustrie lieferte Reichtum, mit dem der bäuerlich geprägte Norden nicht mithalten konnte. Wallonen kontrollierten die staatliche Verwaltung, die Justiz, und selbst die ursprünglich flämische Hauptstadt Brüssel wurde Schritt um Schritt französisch. Wer vorwärtskommen wollte, mußte französisch sprechen, an Schulen war Flämisch lange Zeit sogar verboten. Doch in den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Gewichte verschoben: Während der ländliche Norden sich zur High- Tech-Region entwickelte, ging die Schwerindustrie den Bach hinunter. Zwischen Liège (Lüttich) und Tournai verfallen heute leere Fabrikgebäude zu Hunderten, die Arbeitslosigkeit ist in manchen Landstrichen auf über 30 Prozent hochgeschnellt.
Die 1989 entstandene Region Wallonien ist heute so gut wie pleite. Aber aus Brüssel ist nichts zu erwarten – den flämischen Parteien geht schon der Transfer über die gemeinsame Sozialversicherung zuweit. Weil in Wallonien mehr Menschen bedürftig sind, so die Rechnung des Vlaams Bloks, fließen jährlich mehrere Milliarden Mark über die Sozialkassen von Nord nach Süd. Die wollen die Flamen lieber für sich behalten.
So ist in Wallonien eine Untergangsstimmung gewachsen, in der auch die traditonellen Wählermilieus aufbrechen. Bei den letzten Parlamentswahlen fuhr die Sozialistische Partei noch fast zwei Drittel der Stimmen ein – sie beherrscht in den Arbeiterregionen nicht nur das politische Leben. sondern von Sportvereinen, Jugendklubs und Altersheimen bis hin zur Lebensversicherung ist alles sozialistisch organisiert. Doch bei den Kommunalwahlen im Oktober bekam der von den bei den Flamen dominierenden Christdemokraten so titulierte „marxistische Staat“ in Wallonien tiefbraune Flecken: In Charleroi und Lüttich räumten zwei rechtsradikale Parteien über 10 Prozent ab – vier Jahre vorher hatten sie noch 0,4 Prozent. Viele Wallonen, durch die sozialistische Rundumversorgung lange Zeit immun gegen rechte Rattenfänger, trauen den Sozialisten nicht mehr zu, im Bundesparlament ihre Interessen gegen die Krämerseelen aus dem Norden durchsetzen zu können.
Seit Jahrzehnten regieren in Brüssel die wallonischen Sozialisten mit den flämischen Christdemokraten, stets mit dabei auch die kleinere Sozialistische Partei Flanderns und die Christen Walloniens. Einerseits ist dieser Viererblock Garant dafür, daß Belgien nicht gleich auseinanderfällt, andererseits aber hat diese Dauerkoalition etwas Lähmendes. Jeder Wähler weiß: Egal wo er sein Kreuzchen macht, an der Zusammensetzung der Regierung wird sich auch nach diesem Sonntag nichts ändern. Da in Belgien auch noch Wahlpflicht besteht (Strafen von 20 bis 50 Mark drohen), landen die Stimmen der Enttäuschten und Zornigen noch häufiger bei den Rechten als in den Nachbarländern. Ins Wahllokal gezwungen, protestieren sie mit ihren Kreuzchen. Alois Berger
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