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Ein hermeneutischer Wegelagerer

Der Bildungsroman einer Generation, die wie keine andere mit der Macht der Eltern beschäftigt war – der Berliner Soziologe Heinz Bude legt seine psychohistorischen Untersuchungen über das Altern der Achtundsechziger vor  ■ Von Jörg Lau

Frage: Wann haben Sie zuletzt den Begriff „Gesellschaft“ resp. „gesellschaftliche Bedingtheit des Verhaltens“ in einem positiven Sinn gebraucht? Wann schwang dabei zuletzt das Gefühl einer erweiterten Perspektive, neuer Handlungschancen, einer möglichen Wende zum Besseren mit?

Kann es sein, daß Sie sehr weit zurückgreifen mußten hinter die Orakel der letzten Jahre, denen zufolge heutige Bedrohungen „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommen? Und kann es sein, daß Sie mit Ihren Rekursen auf die „gesellschaftliche Dimension“ im Kern nichts anderes meinen als: Da können wir nichts machen, laßt alle Hoffnung fahren?

Heinz Budes neuester Beitrag zur Psychohistorie der Bundesrepublik führt zurück in eine Zeit, in der das anders war. Zu den 68er Errungenschaften gehört die Entdeckung der „Gesellschaft“: „Das Denken muß aus seinem anthropologischen Schlaf geweckt werden, damit der einzelne sich als Teil des gesellschaftlichen Wesens begreifen kann, das sich durch Arbeit, Interaktion und Sprache selbst erzeugt.“

Nach den „Flakhelfern“, die in den achtziger Jahren die Schlüsselpositionen der Macht innehatten („Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation“, Suhrkamp 1987), hat der Berliner Soziologe nun der nachfolgenden Generation eine Studie gewidmet. Heinz Bude schreibt weiter an seiner soziologischen Geschichte der Bundesrepublik, einem Unternehmen, das aus dem Treiben der Fachkollegen, und nicht nur aus ihrem, in Anspruch und Durchführung meterhoch hinausragt. Budes neues Buch gehört auch auf den Nachttisch derer, die uns von Saison zu Saison mit dem unerfüllbaren Wunsch nach dem „großen realistischen Gegenwartsroman“ traktieren. Lange genug ist im Gefolge des gesellschaftswissenschaftlichen Booms nach 68 die Literatur soziologisiert worden. Heinz Bude literarisiert die Soziologie und schafft dabei eine neue Form, einen legitimen Sproß nicht nur der Generationsforschung von Karl Mannheim und Helmut Schelsky, sondern auch eines untergegangenen literarischen Genres, des Bildungsromans.

Dem war bekanntlich das Subjekt verlorengegangen, von dem sich repräsentativ erzählen ließ, wie das Individuum sich dem Allgemeinen entwinden kann – und wie es am Ende doch wieder eingeholt wird. Karriere und Desillusionierung waren die Themen des Bildungsromans, und sie sind auch die Themen dieser Soziologie, die an die Stelle des exemplarischen Helden die Figur der Generation rückt.

Zwischen 1987 und 1989 hat Heinz Bude 21 biographische Interviews mit Angehörigen der Jahrgänge 1938-1948 geführt. Sechs davon, drei Gespräche mit Frauen, drei mit Männern, werden in ausführlichen Passagen nach der Tonbandmitschrift, mit jedem Räuspern und Lachen, dokumentiert und en détail interpretiert. Es sind durchweg Intellektuelle, die hier zu Wort und Deutung kommen: Verleger, Fernsehredakteurin, Frauenbeauftragte, akademischer Projektmitarbeiter, Professor, freie Autorin. Budes Methode ist, wie schon in dem Buch über die Vorgängergeneration, die eines hermeneutischen Wegelagerers, der den arglos daherspazierenden Sätzen ihre versteckten Sinn- Schätze abknöpft. Solches Räuberhandwerk kommt nicht ganz ohne Gewalt aus, aber eben auch nicht ohne Geschmeidigkeit und Geduld, denn erst die mimetische Hingabe an die Bewegungen des Opfers eröffnet dem gezielten Zugriff seine Chance.

Vor allem eines frappiert an der ausgebreiteten Beute: 68 rückt in den Erzählungen, wie sie Bude wiedergibt, in den Horizont der deutschen Kriegserfahrung, die mit 1945 nicht zu Ende war. Die 68er erscheinen als Generation der Kriegskinder, selbst wenn sie Vernichtung und Niederlage nicht unmittelbar als Zeugen, sondern in der Konfrontation mit spät heimkehrenden Vätern oder Vaterlosigkeit erlebt haben.

Heinz Bude hat ein spielverderberisches Buch geschrieben, dem der Widerstand der Zielgruppe gewiß sein sollte: In dem Moment, in dem die 68er ihre Deutung der Revolte – als initialen Moment der „eigentlichen“ bundesrepublikanischen Geschichte – bis in die offiziösen Reden der Weizsäckers und Vollmers durchgesetzt haben, lenkt er den Blick zurück auf die Zeit, der die „Lebenskonstruktionen“ (Bude) der Revoltierenden entstammen. Das deutsche 68 rückt in dieser Perspektive weit ab von Berkeley, Swinging London und dem Pariser Mai – und zurück in die Wohnküchenwelt der zerbombten Städte.

Zur unterscheidbaren Generation sind die von Bude aufgesuchten Zeugen nicht erst in den sechziger Jahren geworden. Immer wieder kommen die Gespräche auf die kriegsbedingten Familienkonstellationen zurück, und es wird der autoritäre Urgrund sichtbar, von dem sich die Antiautoritären abstoßen mußten. Mehr als jede andere Generation zuvor waren die Kriegs- und Nachkriegskinder auf die elterliche Autorität hin orientiert: zunächst der Bedrohung im Kriege wegen, die sie mehr als andere Generationen zuvor vom Schutz durch die Eltern (in der Regel: die Mütter) abhängig machte; dann durch den Zusammenbruch der elterlichen Welt am Kriegsende; schließlich durch die oft prekäre innerfamiliäre Situation – die Kinder fühlten sich verantwortlich für die Rettung ihrer durch Krieg, Gefangenschaft und Heldentod angeschlagenen (Rest-)Familien. Die Lebensläufe der Achtundsechziger erscheinen im Verlauf dieser Untersuchung immer wieder als Versuche, die beschädigte Autorität der Eltern nicht zu zerstören, wie es der Mythos von 68 will, sondern zu restituieren – in der Hingabe an „die Bewegung“, „die Theorie“, im sozialen Aufstieg, für den die Zeichen der Zeit günstig standen.

Unter den sechs Geschichten, die Bude erzählt, sind vier Geschichten vom Scheitern: Dem Professor, dem die marxistische Analyse des Verblendungszusammenhangs den Aufstieg aus dem Arbeitermilieu ermöglichte, zerfällt die Wissenschaft am Ende zwischen den Händen, bis sie selbst als Teil der allgemeinen Verblendung erscheint. Der Soziolinguist, der sich heute von Projekt zu Projekt hangeln muß, hat seine Karriere der Bewegung geopfert, bis diese ihn opferte, weil er den neuesten Jargon nicht linientreu mitsprach. Die Frauenbeauftragte wacht über weibliche Aufstiegschancen und hat doch beim Wachen über die Reinheit der Marxschen Lehre ihre vielversprechende akademische Karriere in den Sand gesetzt. Die freie Autorin reproduziert die Vernichtungsangst der Kindheit in immer neuen apokalyptischen Szenarien, denen Atombombe und Ozonloch am Ende eins sind.

Nur zwei der Porträtierten machen eine weniger tragische Figur: der Verleger, der die Linke in den siebziger Jahren mit französischer Theorie zu versorgen begann, sucht immer noch neue Wege, seine romantische Neigung zur ästhetisch-politischen Revolte für neueste deviante Entwicklungen anschlußfähig zu machen; die Fernsehredakteurin, die von Popkultur nach mäßig erfolgreichem Privatisieren mit Ehemann und Kind auf Frauenbewegung umsattelte, hat sich ein osmotisches Verhältnis zum Zeitgeist erhalten, was ihr immer neue Lebensstil-Experimente mit Joggen, Makrobiotik und Esoterik ermöglicht.

Hier kommen offenkundig die Sympathien des Autors ins Spiel, der sich – Jahrgang 1954 – die Erleichterung anmerken läßt, daß ihm zwei ins Netz gegangen sind, die den Verstrickungen der kriegsbedingten Familienkonstellation halbwegs haben entschlüpfen können. Um so seltsamer, daß dem sonst so subtilen Deuter bei der Redakteurin am Ende die Pferde durchgehen. Adelheid Guttmanns Jogging-Passion „halluziniert“, so erfahren wir, „die endlose Zugfahrt des Kriegskinds ins Nichts, damit nie sich herausstellte, daß die Mutter ihre Kinder in höchster Gefahr und größter Not um der Treue zu einem großen anderen willen verlassen hat.“ Dieser andere, vor dem die Redakteurin vergebens wegläuft, ist kein geringerer als Adolf Hitler.

Man staunt: War es nicht eine Passion gerade der 68er, den Führer hinter jeder Parkbank lauern zu sehen? Für dieses eine Mal scheint der Wegelagerer selbst in die Falle gegangen zu sein. Die 68er „Revolution der Interpretationsverhältnisse“ (Bude) frißt nicht nur ihre Kinder, sondern auch noch den Neffen, ihren Historiker. Aber, um eine andere nicht mehr allzu hoch angesehene Passion von 68 zu bemühen – die Dialektik: Es sind nicht zuletzt Spuren eines Kampfes wie dieser Patzer, die Budes Buch zu einem zeitgeschichtlichen Augenöffner machen.

Heinz Bude: „Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938-1948“. Suhrkamp Verlag, 376 Seiten, geb., 48 Mark

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