: Serben erklären der UNO den Krieg
■ Nach zweitem Nato-Luftangriff: UN-Militärbeobachter in Pale als Geiseln genommen und im bombardierten Munitionsdepot angekettet / 72 Tote bei nächtlichem serbischem Angriff auf Tuzla
Sarajevo/Zagreb (rtr/AFP/taz) – „Wir werden gerade vor dem Haupttor aufgehalten“, berichtet der UNO-Militärbeobachter über Funk. „Hier stehen eine Menge Zivilisten. Eine Person lud ihre Pistole und wollte uns töten. Ich bin bereits zusammengeschlagen worden“: So begann gestern die Geiselnahme von UNO- Blauhelmen durch serbische Soldaten in der bosnisch-serbischen Hauptstadt Pale.
Mit Handschellen gefesselt, werden die drei Beobachter – ein Russe, ein Tscheche und ein Kanadier – zu dem weitläufigen Munitionsdepotgelände außerhalb von Pale gefahren, das Nato-Kampfflugzeuge gestern vormittag gerade zum zweiten Mal bombardiert hatten. „Uns wurde mitgeteilt, daß wir ermordet werden, wenn die nächste Bombe fällt“, gibt der Beobachter noch durch. Ein serbischer Soldat unterbricht ihn: „Die drei UNO-Beobachter sind nun auf dem Lagergelände. Fallen weitere Bomben, sind sie die ersten, die weg sein werden. Verstanden?“ Schließlich werden die drei zwanzig Meter von den Nato-Bombenkratern entfernt angekettet – zwei an einem Metallpfosten, einer direkt an einem Artillerielagerraum.
Mindestens neun UN-Blauhelme sollen von den Serben bisher verhaftet worden sein. Seit gestern früh blockieren serbische Soldaten auch alle neun UN-Depots rund um Sarajevo, wo schwere Waffen aufbewahrt sind, die regelmäßig von den Serben entwendet und gegen die bosnische Hauptstadt eingesetzt werden. 100 bis 150 Blauhelme sitzen in diesen Depots fest, was einer Geiselnahme gleichkommt. Die bosnischen Serben haben ferner mit der Tötung von UN-Militärbeobachtern gedroht, von denen nach UN-Angaben in den serbisch gehaltenen Teilen Bosniens 48 tätig sind.
Die Geiselnahme ist Teil einer Eskalationsstrategie mit ungewissem Ausgang. Nach dem ersten Nato-Lufteinsatz auf das Gelände bei Pale am Donnerstag hatte das bosnisch-serbische Kommando erklärt, die Nato habe sich auf die Seite der bosnischen Regierung gestellt; man werde nun die UNO als Feind behandeln. In der Nacht zum Freitag folgten Angriffe auf alle UN-Schutzzonen in Bosnien mit Ausnahme von Zepa. Beim schwersten Angriff, in Tuzla, schlug eine Splitterbombe vor einem vollbesetzten Café ein und richtete ein Blutbad an. 72 Menschen starben dort. Es war die blutigste serbische Einzelaktion seit Beginn des Krieges. In Sarajevo starben bei den Bombardierungen zwei Menschen, in Gorazde vier.
Als Antwort darauf flog die Nato gestern vormittag ihren zweiten Angriff auf das serbische Munitionsgelände bei Pale. Während die Nato wie auch nach dem ersten Einsatz betonte, es habe nur einen Angriff gegeben und er habe sich ausschließlich gegen das Munitionslager außerhalb von Pale gerichtet, gab es in Pale Berichte von Explosionen und Verletzten in der Stadt. Unklar war, ob diese der Nato zuzuschreiben waren. Die Nato dementierte zudem den von den Serben reklamierten Abschuß eines Nato-Flugzeugs. Weitere Nato-Luftangriffe gab es gestern zunächst nicht, obwohl ein zweites von der UNO gesetztes Ultimatum von den Serben nicht befolgt wurde. Darin hatte die UNO die bosnischen Kriegsparteien aufgefordert, bis zum Mittag ihre schweren Waffen aus einem 20-Kilometer-Umkreis von Sarajevo abzuziehen.
Daß ausgerechnet ein Russe zu den auch im Fernsehen gezeigten Geiseln von Pale gehört, ist diplomatisch klug: Das russische Außenministerium forderte daraufhin ein dringendes Treffen der Bosnien- Kontaktgruppe und sorgte sich, daß die UN-Soldaten in den Konflikt hineingezogen würden. Die USA setzten unterdessen in der Adria ihren nuklearen Flugzeugträger „Theodore Roosevelt“ in Bewegung. Das Pentagon sagte, das Kriegsschiff sei auf dem Weg in eine Position, die ein Eingreifen in den Bosnien-Konflikt erlauben würde. Seiten 2 und 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen