: Betroffenheitsgaul durchgegangen
■ betr.: „Der Rückzug auf die türki schen Medien“ von Vera Gase row, taz vom 9.5.95; „Selbstgefäl lige Ignoranz“ von Dilek Zaptçi oglu, taz vom 18.5.95; „Migrations politisches Störfeuer des türki schen Geheimdienstes“, Interview mit dem grünen Bundestagsabge ordneten Cem Özdemir, taz vom 17.5.95
Der Artikel von Dilek Zaptçioglu zeigt par excellence, welcher Wahrnehmungsverweigerung viele Linke erlegen sind. In besseren Zeiten gab es Analysen über den brutaler werdenden Verdrängungswettbewerb, über die „Ressource Beziehungen“, mittels derer die unliebsamen ausländischen Kollegen von den Fleischtöpfen ferngehalten werden sollten, über das „Stigma“ Herkunft: In der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzt sich ein Klischee nach dem anderen über „die Türken“ und „den Islam“ durch mit dem Resultat, daß beide Begriffe inzwischen negativ besetzt sind. [...]
Welche Folgen das hat, wenn eine ganze Generation ihre Herkunft als Bürde und Last empfindet, was es bedeutet, wenn sich türkische Kinder und Jugendliche freiwillig deutsche Namen verpassen, um nicht diskriminiert, sondern akzeptiert zu werden, bedarf eingehender Untersuchungen. Wundert sich da noch jemand, daß Medien wie TRT-INT, TD1, Hürriyet und Milliyet zu den am intensivsten genutzten Informationsquellen der Türken gehören? Wenn die deutschen Medien sie nur als Themenrohstoff ausbeuten, wenn die deutschen Parteien ihnen nicht das Wahlrecht zugestehen wollen und sie nach den EU-Ausländern zu Dritte-Klasse-Ausländern deklariert werden, sollen sie dafür dankbar sein? Ist es vor diesem Hintergrund so überraschend, daß die Absicht eines Rechtsanwalts, eine eigene, türkische Partei zu gründen, unter Türken auf eine unerwartet große Resonanz stößt? Wohin mit diesen Türken, Vera Gaserow? Cem Özdemir? „Les Arabes à la mer?“ Soll man sie, die Uneinsichtigen, die nicht das lesen und sehen wollen, was sie sollen, alle außer Landes schaffen?
Hat Dilek Zaptçioglu nicht recht mit ihrer Vermutung, daß diese neulinke Haltung gefährlich nahe an rechtsextreme Positionen rückt? Daß es dem „gemeinen Türken“ mißfällt, wenn er permanent einer negativen Begriffswelt und einer aggressiven Öffentlichkeit ausgesetzt ist, daß er nicht will, daß seine Kinder sich ihrer Herkunft schämen sollen, ist das wirklich nicht nachvollziehbar? Metin Fakioglu, Frankfurt/Main
Der in ihrer journalistischen Arbeit von mir sehr geschätzten Dilek Zaptçioglu ist anscheinend der „Betroffenheits-Gaul“ durchgegangen.
Ich denke, daß Vera Gaserow in ihrem Artikel ein wichtiges Phänomen aufgegriffen hat, nämlich den zunehmenden „Rückzug“ der Deutschland-Türken (ich benutze diesen Begiff, da D. Zaptçioglu nun plötzlich die Bezeichnungen „Einwanderer“ oder „Minderheiten“, für die wir uns seit langem einsetzen, nicht mehr zuläßt) aus dem Geschehen in dieser Gesellschaft. Daß es dafür Gründe gibt, die hauptsächlich in der bundesdeutschen „Politik der Realitätsverweigerung“ (sprich: Deutschland ist kein Einwanderungsland) liegen, ist unbenommen und kommt auch in dem Artikel zum Ausdruck.
Daß bestimmte lokale Fernsehsender eine wichtige Kommunikations- und Informationsfunktion bestreiten, ist auch unbenommen. Zum einen ist dies aber kein Widerspruch zu der angesprochenen mangelhaften Qualität, zum anderen würde sich ein Großteil dieser „Telefonsendungen“ erübrigen, würde in der Bundesrepublik endlich Einwanderungs- beziehungsweise Minderheiten-, statt Ausländerpolitik betrieben. Dies letztere gilt übrigens auch für eine „sich abschottende Suche nach Identität“.
Vera Gaserows Artikel ist ein journalistischer Beitrag zu diesen Fragen. Mensch muß nicht mit allen ihren Wertungen einverstanden sein. Aber – auch als unangemessen empfundene – Kritik an der türkischen Minderheit müßte zulässig sein, ohne gleich in die ausländerfeindliche Ecke gestellt zu werden. Und ein Vergleich mit dem vor einiger Zeit in der Intertaz erschienenen rassistischen Artikel zur Staatsbürgerschaft ist absurd. Safter Çinar, Berlin
[...] Dilek Zaptçioglus Blick als Journalistin ist vielleicht zu stark auf die Medienlandschaft verengt, wenn sie schreibt, daß noch nicht einmal die taz das höchste islamische Fest (das Opferfest) wahrgenommen hätte. Das mag stimmen. Aber ist denn die Medienlandschaft von FAZ bis taz repräsentativ für Stimmungen und Aktionen „an der Basis“? Ich kenne Schulen und Kindergärten, die unter deutscher Leitung (!) das Opferfest bewußt feiern mit allen Kindern und allen Eltern, um der deutschen Bevölkerung den Sinn und die Inhalte dieses Festes zu vermitteln. Ebenso geschieht es umgekehrt mit Weihnachten. Muslimische Kinder sind sehr neugierig darauf, zu erfahren, was es damit auf sich hat, wie auch deutsche Kinder an dem Opferfest großes Interesse entwickeln. Das aber geht jeweils nur, wenn sich Eltern und andere Erwachsene bereit erklären, etwas von sich zu erzählen und ihre Kultur auch ein Stück zu veröffentlichen.
Ansichten und Kommentare in derart arroganter und diffamierender Art wie von Dilek Zaptçioglu machen sämtliche guten, wenn auch zugegebenermaßen immer noch unzureichenden Ansätze zunichte. Ein wenig mehr Objektivität und Sensibilität würde einer Journalistin gut zu Gesicht stehen. Bodo Meier-Böhme,
Bischofsheim
Die Türkei ist kein demokratisches Land, das pfeifen die Spatzen in allen Ländern vom Dach.
Artikel wie der von D. Zaptçioglu oder jener von H. Keskin in der Zeit neulich („Zorn über Deutschlands erhobenen Zeigefinger“) machen mich böse. Sie zeugen von Ignoranz, Selbstgefälligkeit und einer Art ideologischer Selbstverstellung. Wer weiß worüber Bescheid, fragt die Autorin.
Ich unterrichte Deutsch und Politische Weltkunde an einem Berliner Gymnasium. Die Behandlung deutscher Verbrechen in der NS- Zeit inspiriert keinen der türkischen Schüler zu der Frage danach, was gegenwärtig in der Türkei geschieht. Das Gespräch über Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ bringt keinen der türkischen Schüler zum lauten Nachdenken darüber, wie es um den „öffentlichen Gebrauch der Vernunft“ in der Türkei bestellt ist. Ich lese deswegen mit den Schülern Yasar Kemals („Gefängnis Türkei“) und das Interview mit dem türkischen Justizminister im Stern („Exekutionen ohne Urteil sind alltäglich“). Mir ist die Verständigung mit Türken schwierig geworden. Ich ertappe mich bei Gesprächen mit Türken bei der Frage: Was wissen sie über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, und wie verhalten sie sich dazu?
Wäre ich Türke, sagte ich zu einem meiner türkischen Gymnasiasten, ich wäre wahrscheinlich in der Türkei und setzte mich dort für die Herstellung demokratischer Verhältnisse ein. Sie säßen garantiert im Gefängnis, mein Lieber, erwiderte er mir. Bestenfalls, war meine Antwort. Karl-Heinz Klein, Berlin
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