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Begangenheitsverwältigung

Gedenkfeier 50 Jahre danach  ■ Von Gabriele Goettle

Der gepflasterte Weg ging über in eine asphaltierte Straße, und rechts und links erschienen kleine, sehr hübsche Siedlungshäuser mit gepflegten Gartenanlagen. Weiter unten schimmerte ein friedlicher See, auf dessen anderem Ufer die Stadtsilhouette von Fürstenberg lag.“* So beschrieb eine junge Deutsche den Anblick des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück bei ihrer Einlieferung im Februar 1944.

Die hübschen Siedlungshäuser waren die Dienstwohnungen des SS-Bewachungspersonals. Nach 1945 quartierte sich eine Panzereinheit der Roten Armee ein. Zum ersten Mal sah ich die Siedlung im August 1988, die Häuser waren düster und armselig. Junge russische Offiziersfamilien bewohnten sie, Wäsche flatterte an den Leinen, Kinder spielten am Ufer des Schwedtsees. Als Mahn- und Gedenkstätte zugänglich waren nur die im ehemaligen Eingangsbereich liegenden Gebäude, das Lagergelände selbst, hinter Schlagbaum und Mauer, war gesperrtes Militärgelände der Sowjetarmee. Nach dem Abzug der russischen Truppen aus Deutschland begannen die Siedlungshäuser baufällig zu werden. Vandalisierende Jugendliche und Immobilienspekulanten bemühten sich gleichermaßen heftig um die Objekte.

Heute, am 23. April 1995, stehen wieder hübsch renovierte Siedlungshäuser im zurückgestutzten Grün der alten Gärten. Dennoch ist bei weitem nicht alles fertig geworden zum Gedenken an den 50. Jahrestag der Befreiung.

Das Blau des Himmels und die Friedlichkeit dieses schönen Sonntagmorgens scheinen zu trügen, hier herrscht eine Stimmung, als würde sich etwas zusammenziehen. Bereits auf dem Weg fiel die aufgeregte und übergroße Schar der Ordnungshüter auf. An jeder Straßenkreuzung standen Posten. Auf der Bundesstraße 93 wurden die Fahrzeuge in beiden Richtungen kontrolliert (so erfuhren wir später), und selbst wir, die wir weit abseits der Route durch den Wald uns näherten, wurden zum Halten und Vorweisen der Papiere aufgefordert. Auf der Zufahrt zur Gedenkstätte wird das Polizeiaufgebot geradezu massiv, ganze Hundertschaften scheinen das Gelände besetzt und abgeriegelt zu haben. Barsch wird uns der Weg zum Presseparkplatz gewiesen. Die Straße ist gesäumt von Mannschaftswagen und Einsatzfahrzeugen. Die Szenerie spiegelt etwas vom historisch gewachsenen Wahnsinn wider, denn derart massiv aufmarschierte Sicherheitskräfte zeugen ja gerade nicht von Sicherheit, sondern von einer bedrohlichen Gefahr, die lauert. Und einmal abgesehen davon wird es dem ehemaligen Häftling, aufgrund einschlägiger Erfahrungen, schwergefallen sein zu unterscheiden, ob nun bewahrender Schutz oder verwahrende Schutzhaft auf der Tagesordnung steht, ob das Plastikschild mit der Aufschrift „Gast“ nicht vielleicht doch gleich gegen einen roten, gelben, rosa oder schwarzen Winkel ausgetauscht wird.

Zum Sicherheitskonzept gehört anscheinend auch, daß Besucher der Gedenkveranstaltung nur über einen entlegenen Hintereingang, an observierenden Polizeiorganen vorbei und mit Metallsonden überprüft, ins Gelände gelangen können. Politikern, Pressevertretern und auch den ehemaligen Häftlingen ist der Haupteingang vorbehalten. Elisabeth und ich entscheiden uns, den Zugang für die Öffentlichkeit zu nehmen. Die Straße führt vorbei an dünnwandigen Plattenbauten, die zum Abriß bestimmt sind. Im Gras liegt ein Holzschild, kyrillisch beschriftet, mit aufgemalter Mickey Maus. Rechts der Straße zieht sich die Lagerumfassung aus löchrig gewordenen Betonsegmenten dahin. Einige Besucher erklimmen den kleinen Hügel und schauen, unter den mißtrauischen Blicken der Polizei, durch die Öffnungen hinein ins Gelände. Das Hauptaugenmerk der Beamten gilt aber den beiden großen Hubschraubern (mit denen wahrscheinlich die Bundestagspräsidentin und der Ministerpräsident eingeflogen wurden zur Feier des Tages).

Die Zahl der Besucher hält sich in Grenzen, in jenen Grenzen, die ein sonniges Wochenende und die Freiwilligkeit der Teilnahme vorgeben. Das scheint aber für eine Altersgruppe insbesondere zuzutreffen, für die Sechzig- bis Siebzigjährigen. Wo sind sie? Gekommen sind Jugendliche, aus Ost- und Westberlin, Studenten. Die Altersgruppe der Mittvierziger ist gut vertreten, und auch Frauen- und Lesbengruppen sind da mit Kranz und Schleife. Einige Leute ziehen ihre Jacke aus, setzen sich ins Gras. Vor uns, auf Klappstühlen in praller Sonne, die ehemaligen Häftlinge, Frauen, auch Männer, die ein blauweißgestreiftes Dreieckstuch (in der Art der ehemaligen Häftlingskleidung) um den Hals tragen. Manche der Frauen benutzen es auch als Kopftuch, gegen die sengenden Strahlen der Sonne. Ganz vorn, auf dem Podium steht gerade Frau Gertrud Müller, Vorsitzende der Lagergemeinschaft Ravensbrück. Sie spricht von den 132.000 Frauen und Kindern, die hier als Häftlinge dahinvegetieren mußten, von den Zehntausenden, die ihre Befreiung nicht erlebt haben, weil man sie dem Tod preisgegeben und ermordet hat, aber sie erwähnt auch, daß in der Bundesrepublik immer noch ZyklonB hergestellt wird (jenes Gift, mit dem die Massenvernichtung in den Gaskammern praktiziert wurde). Sie begrüßt im Namen aller Kameradinnen und Kameraden einen Vertreter des Schwedischen Roten Kreuzes (das Hunderte von Frauen aus Ravensbrück herausholte vor Kriegsende) und zwei Vertreter der Befreier – damals noch die Rote Armee –, Frau Anna Kurlender aus Minsk und ein Mitglied des Stabes der 49. Armee der 2. Belorussischen Front. Dank und Grüße sollen sie mit nach Rußland nehmen, an die Kriegsveteranen und die Mütter und Frauen, die ihre Söhne und Männer verloren haben. Sie spricht von Solidarität und Völkerfreundschaft unter den Kameradinnen in Ravensbrück und endet mit den Worten: „Niemals wieder Faschismus! Niemals wieder Ravensbrück! Niemals wieder Krieg von deutschem Boden!“

Gertrud Müller ist vielen ein Dorn im Auge, bestimmte Formulierungen sind heute aus dem öffentlichen Sprachgebrauch in Ost und West und aus feierlichen Reden ganz besonders so gut wie verbannt. Es ist geradezu anstößig, von Faschismus, gar Antifaschismus zu sprechen. Man sagt, wenn es denn sein muß, Drittes Reich, Unrechtssystem, Hitlerdiktatur, Schreckensherrschaft, Zeit vor 45, Nazizeit. Aber wie würde das denn klingen, Antinazismus? Das fiele hier allen Antifaschistinnen und von der Roten Armeee befreit wordenen Frauen ausgesprochen schwer. Der Eiertanz ist kaum zu schaffen, und auch Frau Rose Guérin, Präsidentin des Internationalen Ravensbrück-Komitees und nächste Rednerin, schafft ihn nicht und will ihn, bei aller Diplomatie, auch gar nicht schaffen. Zentraler Satz in ihrer Rede ist: „Wir vergessen nicht, daß die ersten Insassen dieses Lagers deutsche Frauen waren, die gegen den Faschismus gekämpft haben. Diese Frauen sind neben den Überlebenden aus allen Ländern Europas, die von den Truppen Hitlers besetzt und gequält wurden, Mitglieder des internationalen Komitees.“ Und man muß hinzufügen, daß diejenigen, die nicht gegen den Faschismus gekämpft haben, die aus rassischen oder anderen Gründen ins KZ kamen, ja ebenso genau wissen, wer sie damals befreit hat und wovon. Hier wird auch besonders deutlich, daß es einen unverwechselbaren Unterschied macht, ob heute deutsche Politiker von Befreiung sprechen oder ehemalige Häftlinge. Noch vor wenigen Jahren war es im Westen keine Frage, daß man den Krieg verloren und sich dem Willen der Siegermächte weitgehend zu fügen hatte. Und so bekommen diese das ganze Jahr über sich jagenden Gedenkveranstaltungen an Bombenopfer, Heimatvertriebene, Kriegsgefallene, Niederlagen, Befreiungen, KZ-Opfer und Kriegsgefangene etwas unglaublich Verwirrendes, weil Maßstab, Maß und Ziel nicht zur Hand sind beziehungsweise übers bisher Gewohnte stolz hinausgeschossen wird.

Daß es aber den Politikern vor allem um eines geht, nämlich darum, gut ins Bild zu kommen und international ein tadelloses Bild abzugeben, von Deutschland, das feierlich und mit Würde gedenkt, das zeigt die auffallende Fürsorge, mit der man eine kameragerechte Pressetribüne bereitstellte, dazu ein Pressezentrum und sogar eine gefällig aufgemachte Pressemappe – weit mehr als der Standard. Was die Pressemappe betrifft, so hätte sie einen interessierten Verwaltungsmenschen auf die Idee bringen können, daß vielleicht auch die ehemaligen Häftlinge – von denen viele, besonders die ost- und südosteuropäischen, ein erstes und zugleich letztes Mal gekommen sind – so etwas wie eine Mappe sehr zu schätzen gewußt hätten. Und das vermute ich nicht nur, es wurde mir bestätigt.

Am nächsten Tag, im „Museum des Todesmarsches“, drängten sich die Häftlinge um eine Wandkarte, zogen mit dem Finger die Strecke nach, die sie, von der SS aus den Lagern evakuiert und Richtung Schwerin getrieben, bewältigen mußten. Sie kamen über die Wege in Streit, fragten nach Material zum Thema, aber die Museumsleiterin konnte weder mit Kopiertem noch mit kleinen Broschüren dienen. Zwei Niederländer sagten mir im Gespräch, daß sie ihnen irgendwie typisch vorkomme, diese Zurückhaltung beim Aushändigen von Material, Plänen des Lagers, Abbildungen, einer Übersichtskarte usw. Das Planerische, die Dokumente würden den Häftling wohl nichts angehen. Lediglich der Antifaschistische Bund habe mit Spendengeldern seiner Mitglieder 60 Mappen erstellt, erfuhr ich. Die werden an vom Bund betreute ehemalige Häftlinge verteilt und enthalten Karten und Bilder, auch Zeitungsausschnitte, über die Gedenkfeiern in Ravensbrück und Sachsenhausen, Texte der Reden usf. So was ist für einen Menschen mit solchen Erlebnissen ja wirklich mehr als ein Souvenir. Die Niederländer brachten es so auf den Punkt: „Die Deutschen waren Meister im Planen und Durchführen von Deportation und Völkermord, aber heute können sie nicht einmal Reise und Programm für ein paar hundert eingeladene Überlebende organisieren!“

Davon ist in der Rede des Ministerpräsidenten vom Lande Brandenburg nichts zu hören. Die Rede ist derart ungeschickt und zugleich dreist, daß man fast glauben möchte, er hat sie selbst geschrieben. Er dankt dafür, daß die „Ravensbrückerinnen trotz der leidvollen Erfahrungen, die sie hier machen mußten, den Faden der Erinnerung wiederaufnehmen“. Das einzige, woran jemand, der im KZ war, mit Gewißheit nicht leidet, ist ein Mangel an Erinnerung daran. „[...] Konzentrationslager sind Ausdruck einer pervertierten Ideologie von Vernichtung, Rassenwahn, Terror und Willkür.“ Demnach gibt es eine nicht pervertierte Ideologie von Vernichtung, Rassenwahn, Terror und Willkür, deren Ausdruck völlige Konzentrationslagerlosigkeit ist? „Ein Frauen-KZ scheint in erhöhtem Maße unmenschlich.“ Um nicht zu sagen, geradezu ungalant! „[...] Sie hatten ständig den Tod vor Augen und starben; viele Tausende. Doch gerade auch aus Ravensbrück gibt es Zeugnisse dafür, daß in diesen Frauen die Menschlichkeit nicht gestorben ist.“ In den gestorbenen Frauen? Nachdem er auch noch vom nicht zu tötenden „Mütterlichen in ihnen“ sprach, Primo Levi mit einem Zitat von ihm mißbraucht hat, kommt er rasch zum Ende: „Wir werden mit den Gedenkfeiern in Ravensbrück und in Sachsenhausen an dieses Kapitel deutscher Geschichte erinnern, und wir wollen das Erinnerte bewahren. Deshalb wünsche ich mir, in Ihre Gesichter zu schauen, Ihre Geschichten zu hören. [...]“ Gesichter und Geschichten geraten rasch aus dem Blickfeld des davonfliegenden Ministerpräsidenten.

Auf dem Programm stehen noch die Präsidentin des Deutschen Bundestages, der Vorsit

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zende des Zentralrates deutscher Sinti und Roma, die Bürgermeisterin der Stadt Fürstenberg und eine französische Schülerin. Ganz zum Schluß, aber das habe ich nicht selbst gehört, soll eine alte Nonne unberechtigterweise das Mikrophon gestürmt und hineingerufen haben: „Worte! Lauter Worte!“ (Später erzählte mir ein Bekannter, er habe sie angesprochen und erfahren, daß sie selbst Häftling in Ravensbrück war.) Elisabeth und ich bewegen uns schon langsam Richtung Haupteingang, von wo aus bald der Trauerzug der Häftlinge und Angehörigen aufbrechen wird, um zu beten und Kränze niederzulegen am Mahnmal, unten am Schwedtsee (in den man damals die Asche der Ermordeten kippte).

Als der Zug kommt, entsteht Unruhe unter dem zahlreichen Security-Personal, man tut, als müsse man einen Schwerlastentransport durch die Innenstadt leiten. Die ehemaligen Häftlinge selbst gehen in dichten Reihen hintereinander, in der Manier alter Leute, manche etwas schusselig oder schwankend, manche mit Stock, viele Arm in Arm miteinander. Die meisten Gesichter sind glatt und tragen kaum Spuren des Alters. Vielleicht ist diese Jugendlichkeit ein verzweifeltes Beharren der Physiognomie darauf, das noch nicht Vollendete auch nicht abzuschließen. Der Zug biegt nun ein zum ehemaligen Krematorium, kommt ins Stocken und steht dann. Wenig später erhebt sich die unverwechselbare und gewaltige Stimme Estrongo Nachamas, Oberkantor der Jüdischen Gemeinde von Berlin. Er singt, und dieser Gesang ist schrecklich. Die Töne perlen dahin wie in der Mailänder Scala, jeder einzelne vollendet geformt, und zugleich ist es wie ein Weinen, diese lange, düstere Totenklage.

Mitten in die nachfolgende Stille hinein klingelt plötzlich ein Telefon. Drei ältere dunkelgekleidete Herren standen schon längere Zeit neben uns und unterhielten sich in gedämpfter Lautstärke, nun aber meldet sich der offenbar ranghöchste der Herren mit fester Stimme als Dr. Nolte, oder so ähnlich. Und dann wird ihm aus dem aufgedrehten Lautsprecher folgende Meldung gemacht: „Es hat eine polizeiliche Maßnahme stattgefunden, 30 Reisende und drei Zeitungsjournalisten wurden einer Personenüberprüfung zugeführt, haben Sie davon Kenntnis?“ Der Angerufene antwortet mit einem knappen „Ja!“. Es knackt etwas, dann sagt die Stimme aus dem Lautsprecher: „Gut, dann lasse ich die Sache auf sich beruhen.“ Worauf der Herr ein befehlsgewohntes „Ja, Ende!“ spricht und das Gerät an einen der Rangniedrigeren zurückgibt.

Als der Zug wieder zurückkehrt, sind viele sichtlich erschöpft. Der Weg bis zum Mahnmal am See und zurück ist weit, und nirgendwo gibt es Schatten. Man hat eine jener Brunnenschalen aus Beton aufgestellt, wie es sie überall in den Baumärkten und Gartencentern gibt, und mit schneeweißen großen Kieseln gefüllt. Der Wasserhahn hat eine lange Schlauchverbindung zum Toilettengebäude. Dieser Brunnen ist bald umringt von Leuten, die ihren Puls kühlen, ein Taschentuch befeuchten und sich Gesicht, Nacken und Hals betupfen. Viele trinken in langen Zügen aus der hohlen Hand, einige spucken das Wasser wieder aus. Drüben vor dem Museum treffe ich auf eine junge Frau, die ein Tablett voller Cola-Becher balanciert. Ich wundere mich, wer möchte schon gegen den Durst lauwarme Cola trinken? Auf die Frage, ob sie auch Mineralwasser hat, antwortet sie unbefangen: „Wir haben nur noch normales Wasser, und das hier ist für unsere Gäste, denn die Becher werden auch bald knapp. Es tut mir leid, aber Sie können ja im WC was trinken, wir holen es auch dort, das ist vollkommen sauberes Trinkwasser, direkt aus der Leitung. Wir haben uns total verkalkuliert mit den Getränken, unser Vorrat war im Nu weg! Aber es heißt, es sollen noch Getränke eingeflogen werden.“ Ich nehme einen Schluck aus dem Brunnenhahn und habe noch lange einen abscheulichen Chlorgeschmack im Mund.

Auf dem Parkplatz vor der ehemaligen Kommandantur stehen kleine Grüppchen herum und unterhalten sich angeregt. Drei wohlsituiert erscheinende Französinnen sitzen auf einer Bank im Schatten, neben ihnen, ganz am Rand und still in sich versunken, sitzt eine geradezu bitterarm und gebrechlich wirkende Ukrainerin. Sie hat das gestreifte Tuch in bäuerlicher Weise um den Kopf gebunden und hält mit beiden Händen einen welk werdenden Blumenstrauß im Schoß. Ich sehe Romani Rose in Begleitung einiger Männer kommen. Sie steigen in ihren Reisebus. Bevor alle eingestiegen sind, halte ich die beiden letzten auf und frage, ob sie finden, daß dieses Schicksal, das man den Zigeunern hier in Ravensbrück, in Auschwitz und in vielen anderen Lagern und Ländern bereitet hat, heute ausreichend zur Sprache kam. Der jüngere von beiden winkt resigniert ab und sagt: „Wir sind da und sind doch nicht da. So ist es immer. Was soll man machen. Wir müssen eben versuchen ... aber wie soll eine Minderheit das machen? Vielleicht können wir auf die Jugend hoffen, vielleicht. Kann sein, sie wird verhindern, daß die braune Gefahr wieder hochkommt. Romani Rose hat es ja in seiner Rede vorhin gesagt, eine halbe Million von unseren Menschen sind vernichtet worden, in ganz Europa. Und ich selbst habe auch vieles am eigenen Leibe ertragen müssen. Wir sind mit unserer Mutter nach Auschwitz gekommen ... nach Birkenau ... und eines Tages hat man mich mit ausgesucht zur Arbeit. Da mußte ich Abschied nehmen von meiner Mutter, meinen drei Geschwistern. Ich ging auf Transport. Nach Oranienburg zuerst, von da bin ich dann nach Buchenwald gekommen und dann hierher, nach Ravensbrück ... so was kann man nicht erzählen ... ich war 14 Jahre alt am Ende. Ich bin von den Russen befreit worden, aber meine Mutter und meine drei Geschwister haben die Freiheit nicht wiedergesehen. Meine Mutter und meine drei Geschwister wurden lebendig vergast in Auschwitz. Das war im August 1944. Das habe ich in meinem Kopf, jeden Tag, was gemacht worden ist mit den armen Menschen. Und heute hören wir immer, 50 Jahre, 50 Jahre ... Was sind 50 Jahre? 50 Jahre sind vielleicht eine lange Zeit, aber hat sie unsere Wunden vielleicht geheilt?“

Der zweite Mann, der bisher geschwiegen hatte, ruft „Nein!“ und fügt hinzu: „Und trotzdem müssen viele von uns um eine kleine Rente kämpfen, eine Entschädigung will man uns auch nicht geben!“

Der andere legt ihm begütigend die Hand auf den Arm und sagt: „Wir als Minderheit, wir haben keine mächtigen Männer, so wie die Juden, keinen Reichtum. Und Staat haben wir auch nicht, der für uns verhandeln kann. Das ist das Problem. Deshalb müssen wir mit unseren kleinen Kräften Gehör finden und Gerechtigkeit, damit unser Anspruch nicht immer wieder verschleppt wird ... Und daß wir als Minderheit unsere Rechte genießen können. Viele Überlebende sind schon gestorben. Es wird schon so lange daran gearbeitet ... und Sie wissen ja, wenn eine Regierung arbeitet, dann müssen Unterlagen sein. Man will ganz genau wissen, wo, was, wie lange. Krankheiten, Verluste ... viele Papiere gibt es gar nicht, oder sie sind verschwunden ... So dauert alles, und am Ende wird vielleicht ein Vergleich gemacht ... was soll man da machen? Entweder sie glauben es oder nicht! Bei den Juden ist es doch auch gegangen, ruckzuck! Warum bei uns nicht? Ich sage es Ihnen, man hat uns auch nach 1945 behandelt wie Diebe, das ist sogar gerichtlich festgestellt worden.“

(An dieser Stelle möchte ich doch gern einen Originaltext beifügen. In einem Runderlaß des Bundesgerichtshofes von 1950 heißt es: „Die Prüfung der Wiedergutmachungsberechtigung der Zigeuner und Zigeunermischlinge hat zu dem Ergebnis geführt, daß der sogenannte Personenkreis wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert wurde.“)

Nun wieder der Betroffene: „Wir sind angeblich nicht rassisch Verfolgte, wir waren faul, arbeitsscheu und asozial, das ist der Ruf, den man uns nachsagt, und daß man uns nichts gegeben hat, das ist ja dann auch für alle Menschen der gute Beweis dafür. Schreiben Sie das auf, daß es rauskommt, immer wieder, das Unrecht, damit die Leute darauf aufmerksam werden. Wenn die Zeitung es schreibt, dann ist es was anderes ... vielleicht liest es ein junger Mensch...“ Atemlos stellen Frauen zwei Kartons auf dem Boden ab: „Hier, die Verpflegung, die hätten Sie fast vergessen!“ rufen sie und sind schon wieder weg. Im Karton sind, soviel ich sehen kann, portionsweise in Klarsichtbeuteln abgepackt, Sandwiches, Obst und ein Fläschchen Mineralwasser.

Wenige Tage später berichtet eine dpa-Meldung, daß – just am Tage der zentralen Gedenkfeier im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen – der Innenausschuß des Bundestages die „Entschädigung für NS-Opfer“ von der Tagesordnung genommen hat, zugunsten der „Plutonium-Affäre“. Unerwähnt bleiben soll auch nicht, daß fast bis Ende 1994 für die Gedenkveranstaltung keinerlei Mittel in Aussicht standen. Weder für die Feier selbst noch für Reise und Unterkunft ehemaliger Häftlinge hatten Bund oder Land einen Pfennig vorgesehen. Die Zusage von Brandenburg kam spät. Auch so eine Kleinigkeit wie die der 30 polizeilich festgehaltenen Personen wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Lage. Festgehalten worden war unter anderem ein Bus aus Wuppertal. Die 30 Fahrgäste durften über längere Zeit den Bus nicht verlassen, dann brachte man sie für sieben Stunden auf ein Polizeigelände nach Gransee hinter Absperrung und Stacheldraht. Dazu Frau Gertrud Müller, die Vorsitzende der Lagergemeinschaft Ravensbrück: „Ich hatte die Studentengruppe aus Wuppertal eingeladen, es war abgesprochen, daß sie Kränze niederlegen für die einzelnen Ländergruppen. Man hat mir die Festnahme nicht mitgeteilt, obwohl die jungen Leute bei der Polizei verlangt haben, daß ein Kontakt hergestellt wird.“

Der verantwortliche Polizeipräsident von Oranienburg hat diese ihm wenig peinliche Angelegenheit in altgedientem Amtsdeutsch referiert. Er habe „polizeiliche Hinweise“ erhalten, daß ein „gewaltbereites Potential“ von Störern „im Anmarsch“ sei. Die Personen (insgesamt waren es 100, denen es ähnlich erging) habe man bis zum Abend festhalten müssen, denn: „Wir waren vor Ort im Moment nicht selektionsfähig und konnten nicht sagen: Sie! Sie nicht! Sie! Sie nicht!“

*

Erinnern und Gedenken: Irgend etwas bäumt sich auf gegen das pure Herunterleiern, auch in den offiziellen Rednern. Diesem Umstand verdanke ich den Versprecher, der den Titel dieses Textes abgegeben hat. Er ist schon älter, aber es gibt auch aktuelle, so von Berlins Bürgermeister Diepgen, der bei der Einweihung des Centrums Judaicum in seiner Rede die Gedenkveranstaltung in Sachsenhausen eine „Festveranstaltung“ nannte, oder vom Bundespräsidenten Herzog, dem am 8. Mai „Elendsherde“ entschlüpften statt der beabsichtigten Elendsheere.

Zahlreicher aber sind die Zeugnisse vorsätzlich herbeigeführter Irrtümer. Zwei möchte ich zum Schluß erwähnen, weil sie ganz unmittelbar mit Ravensbrück zu tun haben und dem öffentlichen Gedächtnis nicht mehr so in Erinnerung zu sein scheinen: Es ist gerade vier Jahre her, daß ein bezugsfertiger Supermarkt auf dem Gelände des Konzentrationslagers Ravensbrück eröffnet werden sollte. Die Verhinderung dieses Planes durch einige Gegner und ehemalige Häftlinge brachte Fürstenberger Bürger derart in Wut, daß sie zur Demonstration gegen diesen „Akt der Willkür“ aufriefen und die Bundesstraße 93 blockierten. Von einem „neuen Verbrechen“ war die Rede, davon, daß „die KZ-Gedenkstätte die Stadt Fürstenberg erdrückt“. Am Ende gab der Tengelmann-Konzern bekannt, er werde sein „Kaiser's Kaffee“-Geschäft andernorts in Fürstenberg eröffnen.

Erinnern möchte ich auch an die Ravensbrücker KZ-Aufseherin Margot Kunz, verheiratete Pitzner, die 1947 von einem sowjetischen Kriegsgericht zu 25 Jahren Haft verurteilt und 1956 begnadigt wurde. 1991 wurde sie von einer Berliner Organisation, die sich den „Opfern von Stalinismus- und SED-Verbrechen“ widmet, sowie vom damaligen Justizminister Kinkel persönlich für eine Haftentschädigung als angebliches SED- Opfer vorgeschlagen. Innerhalb von nur zwölf Tagen war der Antrag für dieses „Opfer“ genehmigt. 550 DM Haftentschädigung pro Haftmonat wurden ihr zugesprochen. Jüdischen KZ-Häftlingen billigte man nur 150 DM pro Haftmonat zu. Zigeunern und anderen Verfolgten gar nichts.

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