: Winnies Hügel, Willies Glatze
■ Dem eigenen Mund beim Reden mißtrauen: Peter Brook inszeniert Samuel Becketts „Glückliche Tage“ in Lausanne
Winnie malt sich die Lippen an, als ginge sie demnächst in die Oper. Dann ruft sie nach Willie, der irgendwo hinter dem Erdhügel liegt, in dem sie bis zur Hüfte versunken ist. Bei Natasha Parry hört sich das an, als lasse eine schicke Lady ihre Flötenstimme erklingen, um den etwas vertrottelten Gatten auf das wartende Taxi aufmerksam zu machen. Die Perlenkette um den Hals, das Tüchlein im Mieder – alles stimmt. Wieder könnte ein grau getöntes Endzeitstück von Beckett beginnen, wäre da nicht dieser strahlende Blick Natasha Parrys. „Wieder ein himmlischer Tag“, seufzt sie und spitzt kokett den Mund.
Winnies Parlando hat etwas Heiteres. Becketts sprechender Oberkörper ist in der Sommerfrische angekommen und gibt sich glücklich seinen Erinnerungen hin. Irgendwann taucht Willies Glatze hinter Winnies Hügel auf, natürlich mit obligatorischem Tuch und darübergestülptem Strohhut. Wenn er zum ersten Mal aus der Zeitung vorliest, grollt François Berthet, als halte die schicke Lady sich ein kannibalisches Vieh hinter ihrem Hügel. Für Brook liegen Zivilisation und Urwald eng beeinander; Willie ist einer seiner Wilden, obwohl er „zivilisiert“ nach Kontaktanzeigen sucht und sich durch ausgiebiges Studium von Nacktfotos den Unmut seiner Lady zuzieht.
Im zweiten Teil steht Winnie der Hügel bis zum Hals, und ihr Gesicht hat während der Pause etwas von der untrüblichen Heiterkeit eingebüßt. In Natasha Parrys Blick ist immer wieder Angst, als traue sie dem eigenen Mund nicht, wenn er sagt: „Oh, dies ist ein glücklicher Tag.“ Tonfall und Gesichtsausdruck rücken voneinander ab, die Inszenierung des schönen Lebens wird brüchig. Am Ende versucht Willie auf den Hügel zu kriechen, bleibt aber mit ausgestreckter Hand in unerreichbarer Nähe zu Winnie am Fuße des Hügels liegen. „Bis daß der Tod euch eint“, könnte über dem Schlußbild stehen. Peter Brook wartete lange, mit „Glückliche Tage“ hat er (wenn nicht alles täuscht) zum ersten Mal Beckett inszeniert. Daß dies ausgerechnet im Jahr seines 70. Geburtstages auf der Bühne des kleinen Theater Vidi-Lausanne direkt am Genfer See geschieht (eine der derzeit spannendsten Bühnen im französischsprachigen Raum), hat hintergründigen Humor: Brook ist seit mehr als vierzig Jahren mit Natasha Parry verheiratet. „Glückliche Tage“ wird nächstes Jahr bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zu sehen sein. Das Frankfurter „Theater am Turm“ erwägt eine Übernahme der Inszenierung. Jürgen Berger
„Glückliche Tage“ von Samuel Beckett. Inszenierung: Peter Brook. Mit Natasha Parry und François Berthet; nächste Aufführungen: 31.5., 1. bis 4.6., 6. bis 11.6.
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