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Aus vollem, zerrissenem Herzen

Reichhaltige Schrecken: Viktor Jerofejews Anthologie neuer russischer Literatur  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Daß Anthologien im allgemeinen – und selbst wenn sie aus Rußland kommen – nerven, weiß auch Viktor Jerofejew. „Sie sind wie Weinproben, bei denen man einen Schluck aus jedem Faß nimmt, statt eine gute Flasche Wein zu trinken, und das auch noch unter der Aufsicht eines rotwangigen Kellermeisters, der einen ansieht mit der unausgesprochenen Frage des Kenners: Na, wie schmeckt's? Bestenfalls kommt man mit Kopfschmerzen davon.“ Daß der Star unter den jüngeren russischen Autoren sich auf die Herausgabe einer Anthologie eingelassen hat, rechtfertigt er mit einem gemeinsamen neuen „Bouquet“, das die versammelten Autoren verbinde.

Tatjana Tolstaja, Valeri Popow, Jewgenij Popow, Lew Rubinstein, der Dorfprosaist Viktor Astafjew, Wladimir Sorokin, „das führende Monster der neuen russichen Literatur“, der große, verzweifelte Exzeßtrinker Wenedikt Jerofejew, der sich in den 80er Jahren schließlich um Kehlkopf und Leben getrunken hatte, und der schwule Dichter Charitonov, der „an zerrissenem Herzen, mitten auf einer Moskauer Straße“ starb, „bevor er es zu großer Berühmtheit gebracht hatte“, würden herausfallen aus der Geschichte der russischen Literatur, die bis zum Ende der 80er Jahre mehr oder weniger kontinuierlich verlaufen sei, schreibt Viktor Jerofejew in seinem Vorwort über „die russischen Blumen des Bösen“. Zwanglos sei man dem (meist aber grandios scheiternden) Menschheitsrettungspathos der großen (Tolstoi, Dostojewski etc.) russischen Literatur, in die „Orgie des Humanismus“ (Andrej Platonow) der Sowjetliteratur gefolgt. Das Ende der offiziellen Literatur sei auch das Ende ihres humanistischen Pendants – „der Blume der Widerstandsliteratur“ – gewesen. Jenseits von Widerstands- und offizieller Literatur habe sich schon zu Lebzeiten der Sowjetunion eine „andere“ Literatur entwickelt, deren Vorbilder durchaus heterogen sind: „Gogol und Marquis de Sade, die Dekadenten der Jahrhundertwende, die Mystiker und die Beatles (...); amerikanische Gangsterfilme, Pop-art und Gaunerlieder, die Stalinschen Hochhäuser und die westliche Postmoderne.“

Wo das Gute schließlich hilflos siegt

Skeptisch zweifle die „andere Literatur“ an allem; Hoffnungslosigkeit dominiere allerorten; fasziniert sei sie vom Bösen; thematisch nicht mehr eingrenzbar, wende sie sich ab „von allgemeinen hin zu marginalen Werten, vom Kanon zu den Apokryphen“. Ein boshafter Ton herrsche selbst da noch, wo das Gute schließlich hilflos siegt. In der neuen russischen Literatur werde zwar noch gelitten; das Leiden erhöhe die Opfer jedoch nicht mehr, wie bei Solschenizyn. Es ist sinnlos, wie in der Lagererzählung Warlam Schalamows, der 17 Jahre in Gefängnissen und Lagern verbracht hat.

Die andere Literatur zweifle „nicht nur am neuen (...), sondern am Menschen überhaupt“, sie zweifle nicht nur am Menschen, sondern auch an ihrem eigenen Werkzeug – der Sprache –, deren mimetische Funktion die Moskauer Konzeptualisten (Prigow, Rubinstein, Sorokin) verneinen.

Ähnliches ließe sich sicher auch über die Literatur anderer ehemals sozialistischer Staaten sagen, wobei der letztlich pathetische Zweifel an der repräsentativen Kraft der Sprache (und damit auch an dem, was sie repräsentieren könnte) die westliche Literatur zum Beispiel seit der Jahrhundertwende durchzieht. Überraschend an der anderen Literatur ist vielmehr, daß sie letztlich die Tradition russischen Erzählens eher fortsetzt, als sich abzusetzen.

„In der russischen Seele ist alles enthalten“, heißt es zum Beispiel in der liebevoll-komischen bis boshaften Chronik des Kleinkriegs zweier Dörfer von Wjatscheslaw Pjezuch: Die „deutsche oder die serbokroatische Seele“ sei zwar nicht weniger tief als die russische, „sondern sogar irgendwie gründlicher, wie auch ein Fruchtkompott besser abgestimmt ist als ein Kompott aus Früchten, Gemüse, Gewürzen und Mineralien“. Dennoch fehle ihnen irgend etwas. „Ihnen genügt zum Beispiel ein schöpferischer Anfang, aber fern ist ihnen der Geist, der alles verneint. Oder sie haben einen ökonomischen Eifer, aber sie folgen nicht ihrer Intuition, die man ,jetzt aber nichts wie weg hier‘ nennt.“ Die meisten Helden, die Jerofejew in seiner Anthologie präsentiert, sind, wie man so sagt, typisch russisch: kleine Leute, extreme Charaktere, begeisterte Künstler, durchgedrehte Mystiker, die Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ noch weitertreiben (Juri Mamlejew); oder erniedrigte und beleidigte Landmädchen, die sich am Ende erhängen (Viktor Astafjew). Ihre Verwandtschaft mit den männlichen Nebenfiguren Dostojewskis ist unverkennbar, mögen sie auch hoffnungslos extremer, obszöner, gewalttätiger, vor allem zynischer sein.

Extrem, obszön, trinkfreudig

Vieles gerät den AutorInnen zur Farce. Häufig ist das komisch, wie in der Geschichte Sergej Dowlatows, in der es trinkfreudig um einen Journalisten geht, der mit einem Jubelartikel die Geburt des 400.000sten Talliners begrüßen soll, oder in der Erzählung von Jewgeni Popow, in der es irgendwann heißt: „Außerdem wurde noch erzählt, daß Kinder gefangen, im Wald aufgehängt und mit Messern aufgeschlitzt wurden, und das Blut wurde in Kolben gesammelt. ,Wozu?‘ – ,Dazu, um es bei der Blutübertragungsstation abzuliefern und riesige Summen dafür zu kassieren.‘“ Ab und an sind die Texte ziemlich trashig. Irgendwie übel gelaunt schildert Wladimir Sorokin „die Sitzung des Gewerkschaftskomitees“, das mit einem Massaker endet; Viktor Jerofejew schreibt nicht weniger boshaft über das Zusammentreffen eines ehemaligen sadistischen Lageraufsehers mit seinem Sohn: „,Alles habe ich gemacht: gefoltert, genötigt, entehrt, angeworben, verurteilt, gezüchtigt, gequält, bestraft. (...) Wie kann man mir bloß so einfach verzeihen?‘ Iwan Sergejewitsch schlug unzufrieden die Hände über dem Kopf zusammen. ,Ich habe schließlich drallen Litauerinnen den Revolver in die Fotze gesteckt und losgeballert ...‘ – ,Entsetzlich! Entsetzlich!‘ Schenka griff sich an den Kopf. ,Aber so waren die Zeiten, Papa. Krieg.‘ – ,Unsere Sache war gerecht, mein Sohn.‘ – ,Verstehe.‘ – ,Ich habe litauischen Säuglingen den Kopf an einem Zaun eingeschlagen!‘ – Schenka ächzte. ,Warum das, Papa?‘ – ,Um besser gegen den Faschismus kämpfen zu können.‘ – ,Ja ja, ich verstehe.‘ – ,Ich habe unschuldige Ackerbauern in die Gaskammern geschickt!‘ – ,Hatten die Kommissare etwa Gaskammern?‘ fragte Schenka verblüfft. – ,Wir hatten alles‘, sagte Iwan Sergejewitsch traurig.“ Nach der Beichte fordert der Vater seinen Sohn auf, gemeinsam vor einer Marienikone zu onanieren und holt ihm auch noch einen runter, während der Sohn schläft, was der Sohn, als er aufwacht, gar nicht schön findet und den Vater später mordet. So sind sie, die Russen. Und auch anders.

Viktor Jerofejew (Hrsg.): „Tigerliebe“. Berlin Verlag, 48 DM.

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