Index on Censorship

Kürzlich erfuhr ich aus direkter Anschauung, was Revision der Geschichte heißen kann.

Da erklärte uns ein Abgeordneter der weißrussischen Opposition die Topographie des Vernichtungslagers Trostenez bei Minsk, das mit Hochhäusern, Industrie und Obstgärten zugebaut ist. Und er listete die Gründe auf, warum die sowjetische Delegation während der Nürnberger Prozesse bei Kriegsende kein Sterbenswort von Trostenez, dem größten Vernichtungslager in den deutsch besetzten sowjetischen Gebieten, hatte verlauten lassen: Zu viele Massengräber gab es hier, die nicht auf das Konto der Deutschen gingen, als daß man internationale Experten auf sowjetisches, ehemals polnisches Gebiet hätte holen wollen. Und nach ein paar weiteren Sätzen begann dieser Mann übergangslos, uns einen Vortrag über die Ziele seiner Partei zu halten.

Die Revision der Geschichte seines Landes war für ihn in erster Linie – oder so sah es in diesem Moment aus – die Herstellung einer Legitimationsbasis für die eigene Politik. So daß nur dem auf diesen Seiten vertretenen Ihnat Sahanovic zugestimmt werden kann, daß die grundsätzliche Bedingung einer glaubwürdigen und umfassenden Umdeutung der Geschichte Weißrußlands nur eine unabhängige Geschichtswissenschaft (samt entsprechenden Zeitschriften) sein kann.

Die in dieser Auswahl aus Index on Censorship kurz dargestellten Beispiele aus Weißrußland, Japan und Jordanien belegen, was Felipe Fernandez-Armesto in seinem Essay das „Potential der Geschichte“ nennt.

Seine Warnung, daß der Relativismus zwar verteidigt werden muß, seine Folgen jedoch gleichzeitig mit Skepsis betrachtet werden müssen, sollte auch allen publizistisch Tätigen ins Stammbuch geschrieben sein. Die Aufhebung von Zensur verhilft im ersten Schritt nur zum Bruch alter Tabus. Sie ist aber noch lange nicht „die Wahrheit“. Uta Ruge, London