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Zwischen alter und neuer Heimat

Nach Beginn der kroatischen Offensive in Westslawonien Anfang Mai wurden zwei Lager für bosnische Flüchtlinge aufgelöst / Das Projekt „Den Krieg überleben“ betreut jetzt einen Teil von ihnen  ■ Aus Ivanić Grad Beate Seel

Man sieht auf den ersten Blick, daß in dem zweistöckigen Backsteingebäude Flüchtlinge untergebracht sind. An einfachen Holztischen auf der überdachten Veranda sitzen Männer, im Schatten der Bäume lagern Gruppen von Menschen, an der Wasserstelle neben dem Haus, einem Schlauch, der von einem Hahn im Erdgeschoß ins Freie geführt wird, stehen Frauen, die Geschirr spülen und Wäsche waschen. Auf dem Balkon im zweiten Stock, der über die gesamte Länge des Hauses führt, flattert Wäsche, dahinter sitzen junge Leute in der Sonne. Die kroatische Fahne, die an dem Gebäude angebracht ist, ist ein Geschenk des Bürgermeisters von Ivanić Grad, einem Städtchen rund dreißig Kilometer südlich der kroatischen Hauptstadt Zagreb, wo die Flüchtlinge eine vorübergehende Bleibe gefunden haben, bis sie die Hürden der Bürokratie überwunden und ein Aufnahmeland gefunden haben.

Die Flüchtlinge, Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, stammen aus der Gegend um Banja Luka, eine Stadt, die von den bosnischen Serben kontrolliert wird. Vor zwei Jahren kam diese nordbosnische Region wegen der Gefangenenlager, Massenvergewaltigungen und Hinrichtungen in die Schlagzeilen. Aber auch heute noch fliehen Muslime, Kroaten und Roma. Nur ist das kein Thema mehr. „Die Verbrechen der Gegenwart sind manchmal ferner als die der Vergangenheit“, sagt Martin Fischer unter Anspielung auf die jüngste Berichterstattung über das Ende des Zweiten Weltkriegs. Er hat im Herbst 1992 das Projekt „Den Krieg überleben“ initiiert und betreut jetzt die Flüchtlinge in Ivanić Grad.

Die Zahl der Bewohner des ehemaligen Gemeindezentrums hat sich vor kurzem erhöht. Am 3. Mai, nach Beginn der kroatischen Offensive gegen die 1991 von Serben eroberte Enklave in Westslawonien, wurden zwei Auffanglager für Bosnien-Flüchtlinge am Rande der UN-Schutzzone aus Sicherheitsgründen evakuiert. In diesen Lagern bei Novska und Okučani mußten die Flüchtlinge ohne Transitvisa seit Juli letzten Jahres eine Zwangspause einlegen, da Kroatien die Einreise blockierte. Mit dem Beginn der jüngsten Kämpfe wandte sich das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR an Martin Fischer mit der Bitte um Aufnahme der Flüchtlinge. Das UNHCR unterhält in Kroatien keine eigenen Lager, sondern ist mit Büros in den kroatischen Einrichtungen präsent. Diese liegen zum Teil in Randregionen – wie beispielsweise das Lager in Gasimči nahe der ostkroatischen Stadt Osiek –, was die Erledigung der notwendigen Formalitäten in Zagreb zusätzlich erschwert. Und Kroatien, wo bereits 380.000 Flüchtlinge und Vertriebene leben, wollte jene aus Novska und Okučani nicht übernehmen. Seit zu den 82 Menschen, die bisher in Ivanić Grad untergebracht waren, Flüchtlinge aus Novska und Okučani hinzugekommen sind, leben dort 204 Personen. Es ist sehr eng geworden, auch wenn bis zu 230 Menschen untergebracht werden könnten. In den großen Schlafräumen, wo die Stockbetten zunächst nur an den Wänden standen, wurden weitere Schlafmöglichkeiten aufgestellt. Bett steht an Bett, man kann gerade noch zwischen den Reihen durchlaufen. Alte und Junge, Männer, Frauen, Säuglinge: vier Generationen sind hier gemeinsam untergebracht; die Familien sollen zusammenbleiben. Privaten Raum für den einzelnen gibt es nicht, auch wenn viele versuchen, so etwas wie einen intimen Bereich herzustellen: Zwischen zwei nebeneinanderstehenden Betten haben viele ein Laken aufgehängt.

Bei der Ankunft der neuen Flüchtlinge hat dies manche Probleme geschaffen, beispielsweise, wenn jemand das Laken wegzog, um zu sehen, was dahinter ist. „Da haben wir gesagt: ,Was guckst du in ein anderes Haus?‘“, erzählt die 21jährige Amra, die schon seit dem 20. Januar mit ihrer Mutter und ihrem Bruder hier lebt. Bei Bedarf arbeitet sie als Übersetzerin für Fischer, eine Aufgabe, die sie gerne übernimmt, da es sonst nichts zu tun gibt. Die „Neuen“ mußten auch erst mit der Hausordnung vertraut gemacht werden, für deren Einhaltung zwei der Flüchtlinge sorgen. So ist zwischen 14 und 16 Uhr Mittagsruhe für die Älteren und die Kinder. Der Fernseher und die Radios werden dann ausgeschaltet. Ab 23 Uhr wird das Licht gelöscht – schwierig für alte Menschen, die es gewohnt sind, früh zu Bett zu gehen.

Tagsüber geben die Männer den Ton an. Sie bestimmen, was im Fernsehen gesehen wird, Nachrichten und Sport, während Frauen und Kinder lieber Spielfilme und Videos gucken würden. Von den ursprünglich drei Fernsehern funktioniert nämlich nur noch einer. Doch trotz dieser Reibereien sind die Menschen füreinander da, weil sie das gleiche Schicksal teilen. Wenn jemand psychologische Probleme habe, berichtet Amra, dann gebe es genügend Leute, die ihn oder sie ermutigen, die eigene Geschichte immer und immer wieder zu erzählen.

Zu ihnen gehört zum Beispiel Begza. Ihr Mann mußte an die Front, als sie im vierten Monat schwanger war. Wenig später wurde ihr mitgeteilt, daß er tot sei. Insgesamt kamen dreizehn Mitglieder der Familie im Krieg ums Leben. Vor einem halbem Jahr starb ihre zweieinhalbjährige Tochter Elma in einem Krankenhaus in Banja Luka an Fieber – Begza ist überzeugt davon, daß sie von serbischen Ärtzten umgebracht wurde, weil eine beantragte Autopsie nicht durchgeführt wurde. Andere Flüchtlinge finden sie häufig weinend in der Toilette, mit dem Bild ihrer Tochter. Sie zeigt ein weiteres Foto, auf dem sie selbst, Elma und drei weitere Kinder der Familie abgebildet sind. „Ich bin die einzige, die noch lebt“, sagt sie. Nach Bosnien möchte sie nicht zurück. Alle Menschen, die ihr nahestanden, sind tot. So kam sie allein nach Ivanić Grad. Lange wird sie aber nicht mehr bleiben. Eine Schwester lebt seit drei Jahren in Berlin, dort will sie versuchen ein neues Leben zu beginnen. Ob das gelingt, weiß sie selbst nicht. In der Zwischenzeit nimmt sie Tabletten.

Begza ist, wie alle Frauen und jungen Männer auf dem Balkon, sauber und adrett gekleidet. Ihre lockigen Haare hat sie zu einem Dutt hochgesteckt und mit verzierten Spangen befestigt. Dem Heim, das nach dem durch den Ort fließenden Fluß Lona benannt ist, fehlt der typische Geruch von Flüchtlingslagern fast völlig. Jeden Morgen wird der Boden gewischt, frische Bettwäsche wird alle zwei Wochen ausgegeben, und obwohl es nur eine Waschmaschine und zwei Duschen gibt, achten die Frauen sehr darauf, sich nicht gehenzulassen. Während sie die Hausarbeit erledigen, versuchen die jügeren Männer, eine Arbeit als Tagelöhner in der Landwirtschaft zu finden. Potentielle Arbeitgeber kommen vorbei und fordern Arbeitskräfte für ein oder zwei Tage an, die dann in zehn Stunden 100 Kuna verdienen.

Die 204 Menschen unterzubringen, zu versorgen, für Arztrechnungen aufzukommen, Kosten für Visa und Transporte zu zahlen, das alles erfordert laut Fischer rund 100.000 bis 120.000 Mark im Monat. Das Problem sind dabei nicht diejenigen, die bereits als Flüchtlinge registriert sind. Sie bleiben nur relativ kurz im Heim. Das Problem sind vielmehr die Neuankömmlinge aus Novska, für die die ganze umständliche Prozedur erst mit der Ankunft in Ivanić Grad beginnt. Da gilt es, Kontakt mit dem UNHCR aufzunehmen, wo die Flüchtlinge nach ihren Erlebnissen und möglichen Kenntnissen von Kriegsverbrechen und Kriegsverbrechern befragt werden.

Bis ein Bescheid eintrifft, was weiter geschehen wird, vergehen schon mal drei Wochen. Wird dann ein Aufnahmeland anvisiert – meist eines, in dem schon Angehörige leben –, vergeht weitere Zeit, bis die Antwort der zuständigen Regierung eintrifft. Dann muß das Visum her und muß die Reise organisiert werden. Während dieser Periode müssen die Flüchtlinge verköstigt und versorgt werden, und das geht ins Geld. Und mit der Aufnahme der Vertriebenen aus Novska hat Fischer die volle Verantwortung für sie übernommen – in jeder Hinsicht.

Die Verpflegung erfolgt in Zusammenarbeit mit einem örtlichen Restaurant, wo täglich zwei Frauen aus dem Heim bei der Arbeit aushelfen. Montags wird jeweils der Speiseplan für die Woche erstellt, es gilt, täglich für drei Mahlzeiten zu sorgen, die dann auf der Veranda ausgegeben werden. Pro Person kostet das am Tag umgerechnet 7 Mark, das macht für 204 Leute 1.428 Mark – im Monat immerhin 42.840 Mark. Hinzu kommen monatlich Wasserrechnungen in Höhe von drei- bis viertausend Mark, Stromkosten von etwa 3.500 Mark, Gaskosten, je nach Jahreszeit zwischen 2.000 und 3.000 Mark. Ein besonderes Problem ist die ärztliche Versorgung. Zwar stuft die örtliche Poliklinik die Flüchtlinge jetzt auch als solche ein und nicht mehr, wie früher, als Ausländer. Aber wenn ein Krankenhausbesuch anfällt, wird es schnell teuer. Für einen Patienten, der zehn Tage auf der Intensivstation liegt, muß Fischer dann schon mal 10.000 Mark berappen – eine erkleckliche Summe, wenn die Spendengelder, die das Projekt früher zu 70 Prozent getragen haben, rar werden.

Ein weiterer finanzieller Faktor sind neben den Visagebühren die Transportkosten, denn schließlich müssen die Flüchtlinge nicht nur ihre Belange in Zagreb erledigen können, sondern auch in ihre Aufnahmeländer gelangen. Dies macht monatlich insgesamt etwa 5.000 Mark aus. Was Deutschland anbelangt, so geht es jetzt meist um den Nachzug von Angehörigen früherer Flüchtlinge, die von Gastfamilien aufgenommen wurden und die nun ihren ehemaligen Schützlingen, die meist bereits Wohnung und Arbeit haben, weitere bürokratische Hürden überwinden helfen. Andere Aufnahmeländer sind Schweden, Tschechien, Großbritannien, Italien und zunehmend auch die USA und Kanada. Das nahe Österreich dagegen hat in zweieinhalb Jahren nur zwei Personen aufgenommen.

Auch die junge Amra wird mit Mutter und Bruder zu Verwandten ins Ausland ziehen – nach Deutschland, Österreich oder in die USA. Die Familie ist mittlerweile über den ganzen Globus verstreut, worunter vor allem die Mutter sehr leidet. Amras Vater wird seit dem 6. 8. 92 vermißt, vermutlich ist er tot. „Wie ein Vogel ist er verschwunden“, sagt Amra. Sie selbst fühlt sich auch ein bißchen wie ein Vogel auf Wanderschaft in Ivanić Grad, irgendwo zwischen ihrer alten und einer unbekannten neuen Heimat.

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