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Wunschmetropole

■ betr.: „Stadt mit Metropolen- anspruch“, Intertaz vom 16.5.95

Sehr geehrter Herr Seidel-Pielen, [...] Ihr Statement zur Stadt ist wirklich etwas sehr platt in seiner Antipathie! Versteh' ich Sie recht, daß eine urbane Metropole erst so richtig großartig ist, wenn sie Pariser Desintegration an ihren Rändern aufweist, den Smog von Athen und meterhohe, unübersichtliche Architektur? (Abgesehen davon, daß ich nur staunen kann, daß Sie hier irgendwo fließenden Verkehr vorgefunden haben ...). Merkwürdig auch, daß in Berlin Kanäle, Parks und übersichtliche Häuser für gutgenährte Kleinbürgerlichkeit stehen – in Amsterdam jedoch der liebenswerte Ausdruck von Freundlichkeit und Weltoffenheit sind. (Die mir bekannten AmsterdamerInnen sind ihrer Stadt gegenüber sehr viel selbstkritischer und liebevoller – wie wär's denn damit?)

Ja, ich sehe sie vor mir, Ihre Wunschmetropole, und wette, Sie wohnen wohlgenährt nicht in der traumhaften Freihandelszone am Alex, sondern studieren Ramsch und Mist mit professioneller Sympathie für ihre Verkäufer aus den gesellschaftlichen Randgruppen.

Wenn „Alltagsleben und Straßenbild der Berliner“ sich seit 1989 nicht verändert haben, verstehe ich übrigens gar nicht, warum Sie diesen Artikel geschrieben haben? Allein die Situation der zugewanderten Menschen und deren Nachkommen scheint sich doch drastisch verändert zu haben. Nur vielleicht sollte ein Beitrag, der sich zu 60 Prozent mit dieser Frage befaßt, in seiner Überschrift nicht den Anspruch erheben, eine Zustandsbeschreibung Berlins zu leisten. Abgesehen davon, daß Aussagen, wie die Ihrer Schöneberger Interviewpartnerin sehr viel authentischer und berührender sind.

Ein reizender Bonbon ist Ihre Anmerkung, wir würden uns hochstaplerisch zum Geschichtszentrum aufblasen. Bislang war das Problem, daß Berlin zuviel Geschichte für eine vertretbare Hauptstadt hat – also besser nicht soviel darüber reden? Vielen wäre das sicher recht. Konstruktive Kritik wie die Ihre, braucht Berlin, Herr Seidel-Pielen. Kira von Moers

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