Sexualhormone in der Umwelt

Experten warnen: Umwelt-Östrogene führen zu einer Verweiblichung der Tierwelt  ■ Von Wolfgang Löhr

Die Beobachtungen werden immer alarmierender: Die Männlichkeit scheint in Gefahr zu sein. Bei immer mehr Tierarten ist eine zunehmende Verweiblichung der Tiere festzustellen, einhergehend mit einem drastischen Rückgang der Fruchtbarkeit. Auch der Mensch ist davon betroffen. So ist seit Jahrzehnten eine anwachsende Anzahl von Männnern steril. Der Anteil ungewollt kinderloser Paare ist in Deutschland mittlerweile auf 20 Prozent angestiegen. Erst in jüngster Zeit werden Umweltstoffe mit Östrogen-ähnlicher Wirkung verdächtigt, in den Regelkreis des Sexualhormonhaushalts einzugreifen.

In vier Gruppen werden die Östrogen-ähnlichen Wirkstoffe eingeteilt: Natürliche Östrogene, die von Säugetieren ausgeschieden werden, synthetische Wirkstoffe der „Pille“, die gleichfalls als Ausscheidungsprodukt in das Wasser gelangen, Östrogen-ähnliche Phytohormone, die zum Beispiel in Soja in besonders hohen Konzentrationen vorhanden sind, und eine nicht überschaubare Anzahl von Chemikalien, vor allem Pestizide und chlorierte Kohlenwasserstoffe wie PCB, PCP, Dioxine und Furane aber auch Substanzen wie ionische Tenside, die in fast allen Waschmitteln zu finden sind.

Anfang März trafen sich auf Einladung des Umweltbundesamtes (UBA) in Berlin über 80 Experten und klagten einen dringenden Handlungsbedarf ein. „Was wir entdeckt haben, sind horrende Lücken des Wissens. Wir haben weder einen Überblick über die Östrogene, die in Abwässern und Fließgewässern sind, noch wissen wir, in welchen Mengen Wirkstoffe aus der Pille in die Umwelt gelangen“, warnt Andreas Gies vom Umweltbundesamt. Die einzigen Zahlen, die aus Deutschland vorliegen, sind über ein Jahrzehnt alt. Mit 20 Nanogramm pro Liter gab das damals noch existierende Bundesgesundheitsamt die Östrogen- konzentration im Wasser an. Frauen müßten 20.000 Liter davon trinken, damit sich eine kontrazeptive Wirkung einstellen könnte, hieß es zur Beruhigung. „Seitdem hat das Thema niemand mehr angerührt“, meint der Fachmann vom UBA. Diese Interpretation sei aber, so Gies, „zu kurz gegriffen“. Denn es gehe nicht um die Frage der kontrazeptiven Wirkung, sondern, und da sind sich die meisten Experten einig, um Störungen bei der Embryonalentwicklung.

„Normalerweise sind die Embryonen vor den hohen Konzentrationen an Östrogenen der Mutter geschützt, weil sie in gebundener Form vorliegen“, erklärt Gies. Im Gegensatz dazu können synthetische Östrogene die Plazentaschranke durchdringen. Entscheidend für die Art und das Ausmaß der Fehlentwicklung ist der Zeitpunkt, zu dem die Belastung auftritt. Häufig sind die Folgen erst Jahre später, während der geschlechtlichen Reife, auszumachen. So wird der vermehrt beim Menschen beobachtete Hodenhochstand oder die verminderte Spermienzahl, aber auch die Zunahme von Hodenkrebs den Umweltöstrogenen zugeschrieben.

Bedrohlich wirkende Beobachtungen werden vor allem aus der Tierwelt berichtet: Bei Alligatoren am Apopkasee in Florida bleibt immer häufiger der Nachwuchs aus. Schlüpfen dann doch einmal Junge aus den Eiern, haben die männlichen Tiere häufig ein deformiertes Geschlechtsteil.

Einem Bericht des britischen Fischereiministeriums zufolge führen die hohen Konzentrationen an Östrogen-ähnlichen Substanzen in den Ausflüssen von Kläranlagen zu einer Störung des Sexualhaushalts bei Fischen. Männliche Regenbogenforellen, die nur wenige Tage in belasteten Flußläufen gehalten wurden, bildeten ein Eiweiß, Vitellogenin genannt, das normalerweise nur bei den weiblichen Tieren zu finden ist. Insgesamt 28 Flüsse wurden untersucht und überall das gleiche Ergebnis: Fast alle männlichen Forellen bildeten nach einigen Wochen fast genausoviel Vitellogenin wie die Weibchen. Ähnliche Bobachtungen machten französische Forscher mit Aalen in der Seine.

Auf der UBA-Tagung berichteten Experten, daß umfangreiche Studien an 300.000 Nordseefischen eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses ergaben. Eine umgekehrte Wirkung wurde hingegen bei Wasserschnecken beobachtet: Die weiblichen Schalentiere vermännlichen vermehrt. An über 40 Schneckenarten wurde dieses Phänomen, das vermutlich durch einen zinnhaltigen Unterwasserschutzanstrich ausgelöst wurd, bereits beobachtet.

Oft werden auch die veränderten Lebens- und Konsumgewohnheiten als Ursache angeführt, die beim Menschen zur Unfruchtbarkeit führen. „Bei Tieren aber in der freien Wildbahn scheidet diese Möglichkeit aus“, meint die Chemie- und Wasserexpertin Barbara Kamradt von der Umweltschutzorganisation Greenpaece, die sich demnächst verstärkt diesem Problem widmen will. Für Professor Hans Tinneberg, Leiter der Frauenklinik Rosenhöhe in Bielefeld, ist es nicht die „Hormon-Wirkung“ der Umweltchemikalien, die die Reproduktionsfähigkeit beeinträchtigt: „Die östrogene oder auch antiöstrogene Wirkung kommt nicht dadurch zustande, daß diese Substanzen an den Östrogen-Rezeptoren ankoppeln, sondern es kommt vielmehr zu einer Beeinträchtigung des Immunsystems, das bei der Reproduktion eine immer entscheidendere Bedeutung zu bekommen scheint. Gerade wenn von PCB und Dioxinen die Rede ist, wird die Beeinflussung des Hormonsystems da mindestens zweit- wenn nicht sogar drittrangig sein.“

Obwohl die bisher beobachteten Auswirkungen keine eindeutigen Aussagen über den Auslöser zulassen, müssen die Beobachtungen ernst genommen werden. Daß möglichst schnell auch in der Deutschland nicht nur entsprechende Untersuchungen eingeleitet werden, sondern auch die Verschmutzung der Gewässer mit Östrogen-wirkenden Substanzen gestoppt werden muß, zeigt das Beispiel aus Kiel. Dort ergab eine Hochrechnung, die auf Abwasseranalysen basierte, daß allein die Konzentrationen des Pillenwirkstoffs Ethynil-Östradiol „über der Wirkschwelle für eine Induktion der Vitellogeninsynthese in männlichen Fischen lagen“.