Der Holocaust – eine Art Ersatzreligion

Der israelische Journalist und Historiker Tom Segev zerstört die Mythen über die Gründung des Staates Israel und führt damit die Diskussion um das Erbe des Holocaust auf die politische Ebene zurück  ■ Von Thomas Kleinspehn

Als Helmut Kohl in der letzten Woche in Israel war, schien alles so normal, daß es beinahe unheimlich wirkte. Seine Sätze waren gut einstudiert, und auch in Yad Vashem, der zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust, behielt er die Gnade seines späten Geburtsdatums für sich. Kaum noch ein Medienereignis, nur noch Pflicht. In Israel selbst war die Reaktion ebenso verhalten – keine emotionsgeladenen Debatten, keine Demonstrationen, kein wütendes Fäustetrommeln gegen Staatskarossen. Doch die scheinbare Normalität täuscht, erlaubt die Frage, ob sie nicht bewußt inszeniert ist, um etwas zu vertuschen. Denn noch im vergangenen Herbst gab es in der israelischen Presse eine heftige Debatte, ob der Haß auf Deutsche „Rassismus“ sei oder nicht. Der Holocaust ist auch in der zweiten und dritten Generation noch schmerzhaft lebendig – wie könnte es auch anders sein. Die Wunden sind so tief, daß erst ganz allmählich in Israel eine Auseinandersetzung über den Holocaust stattfinden kann. Diesen schwierigen Diskussionsprozeß über das Erbe des Holocaust, der in gleicher Weise die persönliche wie die politische Ebene betrifft, hat in Israel ein Buch wie kaum ein anderes in Gang gesetzt: Tom Segevs „Die siebte Million“, 1991 im Original und jetzt als deutsche Übersetzung erschienen.

„Unerwünschtes Menschenmaterial“

Auf fast 700 eindringlich geschriebenen Seiten trägt der israelische Journalist und Historiker die Ergebnisse seiner Recherchen zusammen, die in ihrer Vielfalt mindestens drei große Themenblöcke – jeder für sich ein eigenes Buch – umfassen: die Entstehung des Staates Israel, das deutsch-israelische Verhältnis und die Frage der Erinnerung und des Gedächtnisses. Über allem stehen der Holocaust und seine psychischen, sozialen und politischen Folgen, die die israelische Gesellschaft geprägt haben. Es ist jedoch, so Segevs These, die Tragik der Gründung des Staates Israel, daß die zionistische Bewegung die Bedeutung des Holocaust verkannte und statt dessen vom Mythos der Opfer in der Diaspora und dem Heldentum der Gründerväter lebte. Da dies wenig mit der Realität der 40er und 50er Jahre zu tun hatte, baute Israel seinen Staat auf einem grundlegenden Mißverständnis auf, das ungelöst blieb.

Da waren auf der einen Seite die Opfer, die den Gaskammern entronnen waren oder gerade noch rechtzeitig auswandern konnten. Sie trugen die quälenden Erinnerungen an die KZs, von Gewalt und Vernichtung in sich, worüber sie aber in Israel selten sprechen konnten. Viele glaubten ihnen gar nicht erst. Häufig kamen die Immigranten nicht aus Überzeugung nach Palästina, sondern weil sie kein anderes Ziel wußten. Sie trafen andererseits auf die Pioniere, die im wesentlichen die Gründung des Staates Israel im Auge hatten. Zugunsten dieser Aufgabe achteten sie während des Krieges darauf, genügend Einwanderer ins Land zu schleusen, und sahen die Ausrottung der europäischen Juden als zweitrangiges Problem an. Segev weist mit Hilfe von unzähligen Dokumenten nach, daß der Jischuw, die jüdische Gemeinde in Palästina, nur wenig dafür getan hat, Juden vor den Gaskammern und den Vernichtungslagern zu retten. Hier greift Segev den Gründervater Israels, David Ben Gurion, direkt an, der den Zionismus erst dann bedroht sah, als das ganze jüdische Volk vernichtet zu werden drohte. Jetzt erst suchte er nach Möglichkeiten einzugreifen.

Es hat die unterschiedlichsten Pläne gegeben, Juden aus Europa herauszuschleusen oder durch finanzielle Tauschgeschäfte zu retten, die meisten Versuche scheiterten. Man mag darüber streiten, ob der Jischuw aus eigener Kraft die Möglichkeit gehabt hätte, mehr Juden zu retten, oder ob das nicht eher in der Macht der Alliierten gestanden hätte, die die Vernichtungslager durch Bombenangriffe hätten abschneiden können. Segev gibt hier keine eindeutigen Antworten. Dennoch läßt seine Darstellung keinen Zweifel daran, daß die Bereitschaft der Jewish Agency schon in den dreißiger Jahren nicht allzu groß war, etwa deutsche Juden in Palästina aufzunehmen. Er betrachtete sie als „unerwünschtes Menschenmaterial“, zerstört, korrumpiert durch die Konzentrationslager.

So trafen in Palästina unerwünschte Einwanderer und Pioniere aufeinander. Der Mythos der Helden, die sich nicht „wie die Schafe zur Schlachtbank“ hatten treiben lassen, wurde zu dem Konsens, auf den sich beide einigen konnten. Es war dieser Konsens, der den Staat Israel bestimmte. Um diesen Mythos nicht antasten zu müssen, breitete sich – sicher nicht bewußt – das Schweigen der Opfer und der Nachgeborenen aus: Schweigen gegenüber dem Unverarbeiteten bei den Überlebenden und der Scham und der Schuldgefühle bei den vermeintlichen Helden.

Dieser nie aufgelöste, von der Unfaßbarkeit des Holocaust geprägte Konflikt wurde erst mit dem Eichmann-Prozeß zu thematisieren begonnen. Das Trauma zeigte und zeigt sich immer dort, wo es eine Konfrontation mit den Tätern gibt: in den schwierigen Prozessen der deutsch-israelischen Beziehungen, bei der „Wiedergutmachung“ und später in der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik.

Aber auch in der israelischen Politik selbst. Vor allem die Rechte, speziell Menachem Begin – den Segev als Demagogen beschreibt –, hat den Holocaust immer wieder für seine Zwecke auszunutzen versucht und Angst geschürt. Daß diese Angst vor der Vernichtung stets in der israelischen Gesellschaft präsent ist, zeigte sich zuletzt während des Golfkriegs. Segevs zugespitzte These lautet deshalb, daß der Holocaust zu einer Art „Ersatzreligion“ geworden ist, durch die sich der Staat Israel konstituiert. Es ist der Bezugspunkt sowohl für die Holocaust-Überlebenden, für die Heimat immer noch in Europa liegt, als auch für die Juden aus Nordafrika oder der Sowjetunion. Dadurch bleibt das Leiden des jüdischen Volkes, die Rolle der Opfer und das individuelle Schicksal im Zentrum – für Segev eine Reduktion.

Sein Buch hat in Israel große Diskussionen ausgelöst. Viele bekannte Intellektuelle wie Moshe Halberthal oder Ahron Megged haben Segev vorgeworfen, er untergrabe mit seiner ausformulierten Selbstkritik die Fähigkeit des israelischen Volkes, sich selbst zu verteidigen. Doch „Die siebte Million“ intendiert genau das Gegenteil. Während die meisten Rezensionen – auch in Deutschland – das Trauma der Opfer in den Mittelpunkt rücken, ist dies für Segev nur ein Ausgangspunkt. Er geht in seiner Studie einen Schritt weiter, indem er nach den heutigen Möglichkeiten der Erinnerung des Gedenkens fragt. Diese Dimension seines Buches hat bisher wenig Beachtung gefunden, macht aber gerade die politische und übergreifende Dimension der Studie aus.

In dem sehr subtilen letzten Teil der Arbeit diskutiert Segev die unterschiedlichen Möglichkeiten der Dokumentation des Holocaust in Yad Vashem oder im Museum der Ghetto-Kämpfer im Kibbuz „Lochamei Hagetaot“ sowie die Erfahrungen von Schülern in verschiedenen Gedenkstätten. Während das Jerusalemer Museum versucht, das Unfaßbare darzustellen, indem es nur die Geschichte der Opfer zeigt, geht Lochamei Hagetaot in die Gegenwart hinein.

Gedenkstätten-Brücke zur Gegenwart

Das Museum holt hier die Betrachter in ihrer Realität ab, die zwischen Holocaust und der „palästinensischen Tragödie“ (Segev) angesiedelt ist. Vielleicht, so deutet Segev in seinem viel zu kurzen Epilog an, wird dies zur Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart. Denn es relativiert das Erbe des Holocaust nicht – im Gegenteil, es macht auf seinen politischen Kern des Rassismus aufmerksam. Diese Erkenntnis könnte die „humanistischen Lehren des Holocaust“ (Segev) freilegen und Möglichkeiten zum politischen Handeln jenseits von falschem Heldentum freisetzen.

Genau diesen Weg versucht zum Beispiel das Theaterzentrum Akko zu gehen: In seinem Stück „Arbeit macht frei“, über das Andreas Veiel heute nacht im ZDF (0 bis 1.30 Uhr) berichtet, setzt es den Holocaust ganz unmittelbar mit dem israelisch-arabischen Konflikt in Beziehung. Es ist eine politische Öffnung, die dem Friedensprozeß genauso dienen kann wie der Aufarbeitung verdrängter Traumata des Holocaust. Und dies weit über Israel hinaus.

Tom Segev: „Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung“. Deutsch von Jürgen P. Krause und Maja Ueberle- Pfaff. Rowohlt Verlag, Hamburg 1995, 68 DM