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Brauchen Bauern Bilder?

Ist die Atombombe die Mutter einer neuen Hunsrücker Dorfkultur? Oder ist eher der Niedergang der Landwirtschaft schuld, daß in den ausgemusterten Hunsrücker Cruise-Missiles-Bunkern jetzt Theaterprojekte gedeihen?  ■ Von Wolfgang Albus

Der Hunsrück ist normalerweise eine ziemlich tote Gegend. Kulturell gesehen. Händler oder fahrende Künstler haben um diese bettelarme Gegend schon immer einen großen Bogen gemacht. Die Bewohner blieben unter sich, und das merkt man. Die einzigen, die von auswärts kamen, waren die Soldaten. Die nutzten die fürs Militär so günstige Friedhofsruhe und vergruben sich unter der Erde: Unter dem Erbeskopf entstand ein Kriegshauptquartier der Nato, und bei Hasselbach lagerten unter meterdickem Beton die Atombomben. Seit dem Abzug der Soldaten nutzen nun Künstler die alten Munitionsdepots, ziehen in Kriegslazarette ein und machen im Hochsicherheitstrakt der alten Atombombenbunker Theater. Im Sommer wird etwa das Living Theatre aus New York für fünf Wochen im Hunsrück arbeiten.

Wer den Hunsrück nicht kennt, kennt vielleicht zumindest den elfteiligen Filmzyklus „Heimat“ von Edgar Reitz. Tief im Südwesten liegt sein Dorf Schabbach (in Wirklichkeit: Woppenroth), in jeder Hinsicht die Heimat der Heimat. Durch den Film nahm die kulturinteressierte Weltöffentlichkeit in Tokio oder Paris so zum ersten Mal eine Gegend zur Kenntnis, deren Beitrag zur Kulturgeschichte über die Stufe „Jäger und Räuber“ nicht hinausgekommen ist: Der Jäger aus Kurpfalz und der Volksheld Schinderhannes sind die bekannten Namen der Region.

Befestigungsanlagen des Kalten Krieges

„Bauern brauchen keine Filme“, hat Edgar Reitz einmal gesagt. „Sie leben mit den realen Beweisstücken ihrer Geschichten. Da können sie in ihren Erinnerungen das Gedächtnis umbauen, können lügen, fabulieren, aufschneiden oder die Bruchstücke ihres Gedächtnisses neu zusammensetzen“. Bereitete also erst der Niedergang der Landwirtschaft den Boden für eine Vielzahl von Theaterprojekten, die jetzt mitten auf den Ruinen des kalten Kriegs eine andere Art des Erzählens suchen?

Vielleicht kann ja andererseits auch die Atombombe als Mutter der neuen Dorfkultur im Hunsrück gelten. Denn als in Hasselbach 96 atomare Cruise-Missiles stationiert wurden, kamen nicht nur 200.000 Friedensdemonstranten, sondern erwachte auch eine alternative Kulturszene. Die dritte Erklärungsmöglichkeit heißt Willi Lindemann, Initiator und künstlerischer Leiter fast aller größeren Projekte. Ein Ruhestörer, und was für die Leute am allerschlimmsten ist: „Der ist nicht von hier.“

Lindemann entdeckte die alten Militäranlagen als Schauplätze für internationale Theaterproduktionen. Der Werkbund Rheinland- Pfalz kommentierte seine Idee einer Dante-Inszenierung in der Cruise-Missiles-Stellung Pydna so: „In einem Land, in dem jedes mittelalterliche Burggemäuer erhalten wird, sollte eine der wichtigsten Befestigungsanlagen des atomaren Ost-West-Konfliktes vor dem Verfall gerettet werden.“

Mit seinen unkonventionellen Projekten auf militärischem Gebiet schafft sich Lindemann regelmäßig Feinde in der Politik. Seine Gegner versuchen mit enormer Energie vorzurechnen, daß an derartigen Projekten kein Bedarf bestehe. Der aber mißt die Zuschauerzahlen am Einzugsgebiet des dünn besiedelten Hunsrücks: „Wenn hier 1.500 Leute kommen, dann ist das so, als stünden 100.000 vor der Abendkasse des Berliner Hebbel Theaters“. „Beton, es kommt darauf an, was man daraus macht“, hatten einst Friedensdemonstranten an die Mauern vor den Raketenshelters von Hasselbach gesprüht. Die 120 Millionen Mark teuren Bunker sollten den letzten Tag überstehen, jetzt stehen sie leer.

Für Juni hat Lindemann den Wekwerth-Schüler Heinz-Uwe Haus verpflichtet. In seiner Brecht-Inszenierung, die am letzten Wochenende Premiere hatte, zieht wieder einmal Mutter Courage ihren Karren durchs Kriegsgebiet. Ihre Bühne sind die einst streng geheimen Bunker. Ein Schauplatz mit Hintersinn, schließlich verstehen auch die Zuschauer etwas von Mutter Courages Geschäft mit dem (kalten) Krieg, war das doch das einzige, was den Bewohnern des Hunsrücks jemals Geld gebracht hat, vor allem als die Amerikaner kamen und der Dollar noch vier Mark kostete.

Genau dieses Thema reizt auch das Living Theatre, das den Spuren der amerikanischen Soldaten folgen will. Es hat Theatergeschichte geschrieben, weil es die Schauspielhäuser verließ und auf der Straße arbeitete, nah an den Problemen der Menschen, immer im Grenzbereich von Politik und Theater, international, aber in dieser Form noch nie in Deutschland. Fünf Wochen lang sind sie nun im Hunsrück. Ihr Projekt: „Living in Lautzenhausen“.

Umweg zum Publikum über das Laientheater

Die 70jährige Mitbegründerin Judith Malina, Tochter des Rabbiners von New York, sieht den Hunsrück nicht nur mit den Augen einer amerikanischen Künstlerin. Sie erlebte als Kind die Flucht aus Nazi-Deutschland. Jetzt will sie mit ihrer Truppe ein Stück deutsch-amerikanischer Geschichte aufarbeiten, zusammen mit den Menschen, die im Hunsrück leben. Lautzenhausen, wo das Living Theatre seine erste workshop-performance in Deutschland „in Angriff“ nimmt, gleicht seit der Räumung der benachbarten Hahn Airbase einer amerikanischen Geisterstadt. Früher gab es hier ein reges Nachtleben, und in den 50ern machten Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Fats Domino Station.

Mit dem Thema Emigration / Immigration setzt sich die Donald Byrd-Company in einem Militärlazarett auseinander, das noch im Golfkrieg 1.200 Verwundete aufnehmen sollte. Das Stück wird auch im Mainzer Zollhafen und unter der Ludwigshafener Pylon- Brücke gezeigt. „Ophelia1 Ophelia2“, eine Inszenierung des Amsterdamer manufraktur theaters, bearbeitet den Hamlet-Stoff als feministische Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Frauen des Hunsrücks – in einem Munitionsdepot. Lindemann geht es immer darum, den genius loci eines Ortes für eine künstlerische Auseinandersetzung zu nutzen. „Out of doors events“ statt „out of area“- Einsätze, übersetzte er „Schwerter zu Pflugscharen“. Brauchen Bauern wirklich keine Bilder? Lindemann interessiert sich für die radikalen, pazifistischen und anarchistischen Theatertraditionen. Aber in den gedanklichen Sperrgebieten des Hunsrücks ist die Verwirklichung solch kultureller Projekte ein Drahtseilakt – und ihre Gegner können radikal werden. So glaubte die sozialdemokratische Stadtspitze in der Edelstein-Stadt Idar- Oberstein die Stimme des Volkes zu vernehmen. Und die verlangte nach besserer Förderung des Gesangsvereins ... Als ein Kultur- Scheck aus Brüssel nicht eintraf, kam das den Genossen wie gerufen, konnten sie doch das verhaßte Tanztheaterfestival Mimes und obendrein den Kulturamtsleiter Lindemann loswerden. Seine großstädtische Kultur passe einfach nicht zum ländlichen Raum.

Edgar Reitz meint: „Vor langer Zeit waren wir alle Bauern. Die Erinnerung daran ist bei vielen von uns ausgelöscht. Wir mobilen Bewohner unbestimmter Orte brauchen für unsere Geschichte neue, transportable Beweisstücke. Bilder, die wir mitnehmen können.“ Die Gegner der Lindemann-Projekte sind keine Bauern mehr, aus Bauern wurden Arbeiter bei den Streitkräften. Doch das Geschäft mit Krieg und Abschreckung ist gelaufen. Wer nicht arbeitslos ist, heuerte beispielsweise bei BASF an – im mehr als zwei Autostunden entfernten Ludwigshafen. Es sind „mobile“ Menschen, die morgens um 5 Uhr aufstehen und abends erst um 19 Uhr nach Hause kommen, weil sie ihre „Heimat“ eben nicht verlassen wollen. Diese Leute interessieren sich nicht zwingend für modernes Theater.

Die Theaterprojekte erreichen ihr Publikum deswegen über einen Umweg: übers Laientheater. Das kennen die Bauern, das hat Tradition. Weil Schauspieler nicht zu den Leuten kamen, haben die Leute früher selbst Theater gemacht. Bevor der Fernseher kam. Später kam zum Fernseher Edgar Reitz dazu. Er hat seinen Film überwiegend mit Darstellern aus der Region gedreht, und auch beim Living Theatre ist die Arbeit mit „Betroffenen“ Programm.

Dantes atomare Endzeit-Hölle, Spurensuche nach dem Holocaust, Mutter Courage im Hochsicherheitstrakt, die Flucht im Armeelazarett: mit ein paar Jahrhunderten Verspätung entdeckt der Hunsrück jetzt den Rest der Welt.

„Mutter Courage“, bis 18. 6., Cruise-Missiles-Basis Pydna in Hasselbach; „Ophelia1 Ophelia2“, Premiere am 28. 7., Flughafen Hahn; „Living in Lautzenhausen“ 15. 9.; „The American Dream“ 23. 9., Militärlazarett Neubrücke. Kontakt Willi Lindemann: 06781-980020

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