Morgenluft

„Twin Peaks“ für den Sozialstaat: Lars von Triers Klinik-Fernsehserie „The Kingdom“, ein freundlich-dänischer Gespensterreigen  ■ Von Mariam Niroumand

Früher waren Färber an der Stelle, wo jetzt das größte Kopenhagener Krankenhaus „The Kingdom“ steht. Sie arbeiteten auf Sumpfland und wässerten ihre riesigen Tücher in Teichen, aus denen Nebel stieg. Auf solchem Grund baut man nicht ungestraft. Lars von Trier zeigt das in den späten fünfziger Jahren hochgezogene Gebäude als schwankendes, einsam aus der Innenstadt herausragendes Narrenschiff. Wirkt es aus der Luft schon verloren, fürchtet man bei den ersten Begegnungen mit Fluren und Wänden, es könnte bald einfach traurig auseinanderbrechen. Aus den Rissen im Gebälk rinnt etwas Schwarzes.

Lars von Trier, der Obskurantist unter den dänischen Filmemachern, hat eine Fernsehserie gedreht, die man getrost als eine Art „Twin Peaks“ für den Sozialstaat lesen könnte. Mit David Lynch teilt er die Freude an der Anreicherung des gewöhnlichen Soap-Materials durch Sagenhaftes: Flüche, die auf Menschen lasten, Hexen, herrenlose Maschinen, süße, rote Märchenliebe. Es sei aber unbedingt empfohlen, sich den Dritten Grad zu geben und die Sache in ihrer vollen Kino-Kompaktlänge einzunehmen, erst dann entfaltet sich ihr ganzer Witz und Gespensterreigen.

Im Unterschied nämlich zu anderen Geheimniskrämern des Gegenwartskinos ist bei von Trier Sympathie im Spiel. Frau Drusse ist eine Dame, die sich ab und an mit Symptomen einliefern läßt, welche sie pfiffig aus dem Praktischen Handbuch der Allgemeinen Neurologie entnommen hat, zu keinem anderen Zweck, als sich gemeinsam mit den anderen Moribunden der Neurochirurgie in hübschen Séancen der Geisterwelt zu nähern. Frau Drusse ist so klasse, wie ihr Name schon sagt, und deshalb ist sie es auch, die bald nach ihrer Einlieferung aus dem Fahrstuhlschacht über sich ein kleines Mädchen, das Hausgespenst Mary, weinen hört. Es wurde, so stellt sich im Laufe der Zeit heraus, nach der Krankenhausgründung im Jahre 1910 von ihrem Vater, einem gewissen Aage Krüger (infernalisch: Udo Kier) ermordet. Drusse nimmt über Computertomographen, Pendel und Sterbende Kontakt zu der Kleinen auf; dabei werden andere Schreie hörbar, die auch irgendwie von den Wänden widerhallen. Stig Hälmer, der Chefneurologe, ist Schwede. Er haßt die Dänen und ihre bioenergetischen Morgenkonferenzen, die „Operation Morgenluft“, die für noch mehr bessere Laune sorgen soll („Wie können wir leichter zueinanderfinden, Stig? Würde es helfen, sich zu duzen?“). Er haßt sie so sehr, daß er ab und an nachts auf das Dach klettert, zu den schwedischen Wachtürmen hinübergrüßt und ruft: „Volvo? Ja! Björn Björg? Jaaa! Smörebröd? Jaaaaa! Und hier? Dänischer Abschaum! Hans Christian Andersen, pah!“ Morgens schraubt er alle Radkappen von seinem Wagen ab; könnten ja Dänenlümmel kommen und sie abschrauben wollen. Klar, daß es sein Kotflügel ist, der dran glauben muß, als Frau Drusse und ihr Sohn Bulder von einer Verfolgungsjagd mit dem unbemannten blutbespritzten Krankenwagen zurückgerast kommen.

Bondo, Pathologe, ist auf der Suche nach der größten Krebsleber, die er finden kann, und bereit, dafür höchst ungewöhnliche Wege zu gehen.

Wie in einem Refrain kommt das seltsame Treiben für die kurzen Momente zu sich, in denen man die beiden mongoloiden Tellerwäscher sieht, die im Keller an den Spülgeräten werkeln und sich dabei kurz verständigen, was bisher geschah. „Wenn die Welt schrecklich ist“, sagt der Junge, „dann weinen die Kinder. Wenn sie traurig ist, weinen die Erwachsenen. Aber was ist, wenn die Häuser weinen?“ „Das Haus hier weint schon lange.“

Mogge ist in Camilla verliebt und versucht, sie mit einer Tüte Leichenteile für sich einzunehmen, die aber wiederum von Sanne gefunden wird, die leider ohnehin schon alle drei Minuten in Ohnmacht fällt. Judith ist schwanger und wird immer schwangerer; niemand wird sich wundern, wenn statt eines Kindes ... – aber lassen wir das. Die Entwicklungen in Richtung auf „Rosemary's Baby“ sind nur die Eskalation der zum Tanzen gebrachten Verhältnisse; eigentlich ist die Phase der Andeutungen die apartere.

Natürlich steckt eine geballte Ladung recht altertümlicher Zivilisationskritik hinter der ganzen Konstruktion: der moderne Mensch hat auf Sand gebaut. Vergiß nicht, daß du sterben mußt. Röntgenstrahlen bringen die Wahrheit nicht ans Tageslicht. Zivilisationskritik aus den ältesten Quellen: Die Färber, die man am Anfang in orangenes Licht getaucht gemeinsam reinigen und bleichen sieht, machen eine schöne christliche Urhorde aus.

Aus diesem Paradies in die Stadt vertrieben, bildet ein Kindsmord (and the wind cries Mary! Maria!) den blutigen Grund des späteren Treibens. Man sieht es aus den Ritzen dringen, es wird das Königreich bald sintflutartig hinwegschwemmen.

„The Kingdom“ wurde das Krankenhaus übrigens genannt, weil es Patienten aus ganz Dänemark aufnehmen sollte – der Zusammenbruch, so meint man zu spüren, ist auch ein bißchen die Strafe für die soziale Auffächerung des fauligen Staates, für die Aufgabe des egalitären brüderlichen Prinzips. Ständig geht es im Film um Befehlshierarchien: Wer darf ein Computertomogramm anordnen, wer darf welchen Fahrstuhl benutzen, wer darf einen Patienten anästhesieren, wer darf in die Loge „Sons of the Kingdom“.

Die parlamentarische Kommission, die zur Besichtigung kommt, als der Chefarzt längst unter seinen Schreibtisch gekrochen und Stig Helmer nach Haiti („Haiti you mean? With all the ...?“) geflohen ist, findet nur noch eine große, autonome Gemeinschaft von Durchgeknallten. Übrigens mochten, ganz wie es von Trier vorausgesehen hatte, die Krankenschwestern und medizinischen Hilfskräfte den Film sehr, während er den Ärzten so gar nicht zusagen wollte.

Gedreht wurde mit Handkamera und hochempfindlichem Filmmaterial, was zusätzliches Licht unnötig machte und dem Ganzen einen Hauch von Überwachen, Strafen und so weiter verpaßt. Kaum irgendwas ist im Studio entstanden, bei Operationen wird gesägt, im Labor wird zentrifugiert, auf der Schlafstation heimlich Liebe gemacht, in der Pathologie Leber gewogen – es bleibt einem nichts erspart. Das hat aber von Trier auf den Teppich geholt, der noch in seinen beiden hierzulande bekanntesten Filmen, „Element of Crime“ oder „Europa“ eine recht prätentiöse Gschaftlhuberei an den Tag legte, von seinen Vorstellungen über den Ablauf der deutschen Geschichte und die Rolle der Alliierten einmal gar nicht zu reden.

Den Schnitt hat von Trier am Computer gemacht, aus Videomaterial, das dann wieder aufgeblasen wurde. So wirkt alles verwaschen, satt, rotbraun wie das Körperinnere. Die nach außen gerichteten Überwachungskameras des „Kingdom“ sehen hingegen – nichts.

„The Kingdom – Hospital der Geister“, Regie: Lars von Trier. Buch: Lars von Trier, Niels Vorsel, Kamera: Eric Kress.

Mit Ernst Hugo Järegaard, Kirsten Rolffes, Ghita Norby, Soren Pilmark, Holger Juul Hansen, u.v.a. Dänemark/ Schweden/Deutschland, 1994, 279 Minuten