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Vom Abendmahl zum Grillfest

Seit gestern dominieren 150.000 Besucher des 26. Evangelischen Kirchentages das Hamburger Stadtleben / Von Kirchenasyl bis Biker-Andacht wird einem jeden was geboten  ■ Von Sven Michael Veit

Hamburg (taz) – 75.000 Menschen suchen ein Dach überm Kopf, zumindest einen Platz, um selbigen des Nachts zu betten. Nur vorübergehend, bis zum Wochenende: Der 26. Evangelische Kirchentag dominiert für ein paar Tage das gesamte Leben in Hamburg. Mindestens 150.000 BesucherInnen strömen seit gestern in die Elbmetropole und nur die Hälfte von ihnen kommt bei Freunden, Verwandten oder in Hotels unter. Alle Einheimischen, die es irgendwie einrichten konnten, haben der Stadt für ein paar Tage den Rücken gekehrt. Bleiben müssen allerdings alle Eltern mit schulpflichtigen Kindern: 337 Hamburger Schulen wurden zwar für Kirchentagsbesucher staatlicherseits als Aufenthaltsräume und Schlafsäle requiriert; schulfrei gibt es dennoch nicht. Hamburgs Museen, Botanische Gärten und Naturschutzgebiete wurden de facto zu „außerschulischen Lernorten“ deklariert. Wer also der kirchlichen Besetzung der City entfliehen will, trifft an jedem potentiellen Rückzugsort auf Exkursionsgruppen im Klassenverband, mehr oder minder diszipliniert von genervtem Lehrpersonal. Wenn am Sonntag mittag das letzte „Amen“ beim Schlußgottesdienst im Volksparkstadion verklingt, wird auch das Motto des Kirchentages in Vergessenheit geraten: „Es ist Dir gesagt, Mensch, was gut ist“ – ob die Mammutveranstaltung ihr eigenes Motto mit Sinn und Leben erfüllen kann, darf bezweifelt werden. Zum Beispiel beim Thema Kirchenasyl: Gerade angesichts des gerade abgelaufenen Abschiebestopps für Kurden befürchten viele, daß christliche Kirchen sich demnächst einem Ansturm von Muslimen ausgesetzt sehen. Die kontroverse innerkirchliche Debatte, ob die „christliche Beistandspflicht“ auch dann gelte, wenn damit die „Legitimität staatlicher Rechtsnormen in Frage gestellt“ werde, wird zu den beherrschenden Diskussionen auf dem Kirchentag gehören. Für erheblichen Zwist gerade in der gastgebenden Nordelbischen Landeskirche hat in jüngster Zeit auch das Thema Homosexuelle in der Kirche geführt. Für die Möglichkeit, daß auch schwule und lesbische Paare „vor Gott und der Gemeinde bezeugen dürfen, in Liebe miteinander leben zu wollen“, hat sich zum Beispiel Elisabeth Lingner, Präsidentin der Nordelbischen Synode, eingesetzt – und bekam sofort einen Maulkorb verpaßt. Der Hamburger Pastor Ulrich Rüß, Vorsitzender der konservativ-klerikalen „Sammlung um Bibel und Bekenntnis“, sprach seiner Präsidentin prompt das Rederecht ab, auch Altbischof Ulrich Wilkens wies sie in die Schranken: „Einen solchen Segen auszusprechen“, sei der Kirche verwehrt. Für Motorradfahrer haben die Offiziellen des Kirchentages, die für die Veranstaltung mit einem höchst umstrittenen „Autobahnplakat“ werben, hingegen ein größeres Herz als für Asylbewerber und Homosexuelle: Am Sonnabend nachmittag werden sich auf dem Hamburger Fischmarkt etwa 15.000 Menschen und fast ebensoviele Maschinen zum großen „Biker-Gottesdienst“ versammeln und anschließend im Konvoi aufs Land düsen. Zum Grillfest, nicht zum Abendmahl.

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