: Jedem seine Brille
■ betr.: „Von angespitzter Eisen stange durchbohrt“, taz vom 29. 5. 95, „Durch die völki sche Brille gesehen“, taz vom 30. 5. 95 (Lokalteil Berlin)
Türkische Jugendliche (was sich aus feststellbaren Gründen „akzeptabler“ anhört als „jugendliche Türken“) überfallen eine deutsche Party (Gastgeber) mit multinationaler Komponente (Gäste). So taz vom 29. 5. „Jugendliche“ ist zweifelsfrei ein geschlechtsneutrales Wort, anders als zum Beispiel „Schüler“ („Bäcker“, „Kanzler“), womit je nach Lesart und mittlerweile auch Grammatikauffassung eine männliche Person (spezifische Lesart) oder wahlweise eine männliche oder weibliche Person (generische Lesart, das heißt „Frauen sind mitgemeint“) bezeichnet sein kann. In sämtlichen Artikeln der taz wie auch der übrigen Medien werden also mit Ausdrücken wie „gewalttätige Jugendliche“ etc. junge Frauen als Angehörige einer bestimmten Generation pauschal mitbezeichnet, vulgo: mitangeklagt. Diffamiert also, da gelegentlich beigefügte Bilder meist reine Männergruppen zeigen, gelegentlich dingfest gemachte Verdächtige ebf. meist Männer oder männliche Jugendliche sind. Dieser Umstand geht mir seit Anbeginn, seit dem gehäuften Auftreten von Gewalt in Gesellschaft und Medien, das heißt seit Januar 1989 ungefähr, enorm auf den Zeiger.
„Schlägerbanden“, „Angreifer“, „gewalttätige Jugendliche“, „eine Gruppe von etwa 20 Skinheads“ (taz: wahlweise Glatzen“), „...über 100, zumeist jugendliche, gewaltbereite Demonstranten“ (Tagesthemen: wahlweise: „Chaoten“). Waren da Mädels dabei? Waren da Frauen dabei? Einige, viele, keine? Die Schläger (menschlich; spezifisch oder generisch) mit den Baseballschlägern (sächlich). Wieviele Mädels greifen zur Baseballkeule und verprügeln Rentner (generisch), Einzelne, Wehrlose, Andersdenkende, Andersaussehende, Ausländer (ebf. generisch – es war nämlich auch schon ein 17jähriger Schwangerer dabei, generisch gesprochen, denn natürlich handelte es sich bei diesem jungen Vietnamesen um eine Frau). Ich weiß es nicht und ich kann es nicht wissen. Die Sprache sagt's nicht. Reuter, dpa und AFP sagen's nicht. Und die schreibende Zunft der taz sagt's mir auch nicht, es scheint sie entweder nicht zu kümmern oder es ist ihnen noch nie aufgefallen. Das summiert sich zu einem recht brachialen Vorenthalten von Information. Ich bin hinsichtlich der Zusammensetzung gewalttätiger Gruppen und mithin hinsichtlich eigener Überlegungen, Analysen, Meinungsbildung zu den Ursachen von Gewalt auf Mutmaßungen angewiesen. Ich erfahre, ob die prügelnden Personen alt oder jung sind, arm oder reich, gebildet oder unterprivilegiert, spielsüchtig, alkoholabhängig, arbeitslos, rechts oder links, kahl oder zottelig, ente oder trente oder was. Aber nicht, ob es sich um Männer oder Frauen handelt.
Liebe taz, hattet ihr nicht seinerzeit die Frauenseite abgeschafft mit der Begründung, die Belange von Frauen, einschließlich des Umstands ihrer Existenz, gehörten in allen gesellschaftlichen Bereichen und damit – quasi automatisch – in allen Artikeln der taz ausführlich repräsentiert? Wie wahr. Und welch löbliche Absicht. Und doch: Keine Ausrede scheint zu blöd. Mit ähnlicher Begründung verweigern Firmen, Behörden, Fraktionen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, Quoten, Förderung, Schutz vor Mobbing, sexueller Anmache etc. pepe. Der kleine gesellschaftliche Unterschied soll durch seine Negierung behoben werden. – Und? Wird er? Na, taz?
Soweit der Artikel vom 29. 5., ein Beispiel für viele. Nicht erfreulich, aber üblich, normal halt. Nun aber der Kommentar von Eberhard Seidel-Pielen vom 30. 5. 95.: Wie er mangelnde Differenzierung vorwirft. Wie er wütet. Wie er angreift, aufzeigt, besser macht. Ob man denn den Ausweis jedes einzelnen Baseball-Schlägers angesehen habe, daß man behaupten könne, es handele sich um Türken und Araber? Ob denn nicht auch Deutsche Gruppengewalt ausüben würden, ausgeübt haben und deshalb auch in diesem Fall hätten ausüben können? – Oh ja, auch mir war die inkriminierte Stelle aufgefallen, und zwar als erstaunlicher Verstoß gegen eine ins götzenhafte übersteigerte Political Correctness, deren strenge Befolgung nicht nur Denkverbote verlangt, sondern anscheinend auch Wahrnehmungsverbote verhängt. Nach folgendem Muster: Ich schiebe mich auf dem Gehweg durch eine Gruppe junger, männlicher, türkischer Personen (die übrigens meist bereitwillig zur Seite treten – mein kleines Privileg als Frau!) und darf die ersten beiden Eigenschaften zur Kenntnis nehmen, die dritte aber nicht? Das muß auch Seidel- Pielen komisch vorgekommen sein, denn nachdem er die Auf- und Feststellung der Kategorien im Artikel vom Vortag so politically völlig correct als völkische Brille outet, benutzt er sie nun. Der urdeutsche Jungmacho und sein Pendant, der „fremdländische“ Prolet. Fordert bei der Beurteilung von Jugendgewalt Priorität von sozialen Kategorien gegenüber ethnischen/nationalen. Sinngemäß: In Bezirken mit einem hohen Anteil von deutschstämmigen Jugendlichen... wird genauso häufig zugeschlagen, gestochen und geraubt wie in Bezirken mit einem hohen Anteil von Kinder(n) aus Einwandererfamilien. (Man beachte die geschickte Verwendung des Passiv: etwas nahelegen, ohne es selbst behaupten zu müssen.) Hält dann aber doch ausländerspezifische – Huch, nein, Verzeihung: immigrantenkinderspezifische! – Sozialarbeit für notwendig, um das vermeintlich ethnische Problem anzugehen: kompetente Vermittler ... aus dem Immigrantenkreis, randständige(s) soziale)s) Milieu, Integrationsangebote der deutschen Gesellschaft.
Was er aber bei aller Bemühtheit um Differenzierung übersehen hat, ist wieder mal die Existenz von Frauen: Jugendliche, Randalierer, Jungmachos mit Mittelklassewagen, Muskelkraft und Härte, „fremdländische(r)“ Prolet – es wird immer unwahrscheinlicher, daß von jungen Frauen die Rede ist. Ausgeschlossen ist es nicht. Ich unterstelle: Frauen sind nicht mitgemeint. Frauen sind deshalb nicht ausgeschlossen, weil Frauen/Mädchen schlicht vergessen wurden. Keine kompetenten Vermittler für sie, keine Integrationsangebote. Blamabel. Traurig. Na, Herr Seidel-Pielen, ist nicht ganz so einfach mit der P.C., was? Oder auch: Mit vollen Hosen ist gut stinken. Friederike Kapp, Berlin
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