piwik no script img

■ Die Tschetschenen treffen mit ihrer Geiselnahme sich selbstIrrationale Verzweiflungstat

Schon auf den ersten Blick zeigt sich der tschetschenische Überfall auf die Bevölkerung von Budjonnowsk nicht nur als kriminell, sondern als unklug. Er muß die Öffentlichkeit Rußlands und der Welt gegen die Tschetschenen in einer Situation aufbringen, in der sie auf Unterstützung angewiesen sind. Die Weltöffentlichkeit haßt Geiselnahmen. Die angeketteten UNO-Soldaten in Bosnien haben in Europa mehr Entsetzen hervorgerufen als die jahrelange mörderische Bombardierung der örtlichen Bevölkerung. Die toten und vom Tode bedrohten Russen wirken näher als die „unsichtbaren“ getöteten Tschetschenen.

Die Absicht, auf die Verbrechen Rußlands an den Tschetschenen aufmerksam zu machen, wird durch das Mittel vereitelt. Zudem ist die Hoffnung, die russische Regierung durch Geiselnahme zu irgend etwas zwingen zu können, verblüffend. Die Terroristen müßten ihre Feinde doch ein wenig besser kennen und wissen, daß ihnen auch Russen keinen Pfifferling wert sind, wenn es um Machtdemonstrationen geht. Allein der Ruf der Unbeugsamkeit ist in Rußland ein Ordnungsfaktor. So erscheint die terroristische Tat als irrationaler Verzweiflungsakt jener, die den tschetschenischen Unabhängigkeitskrieg verloren haben.

Wenn die Geiselnahme den Tschetschenen schon nichts nützt, so schadet sie ihnen aber auch nicht. Es gab in Rußland zwar politisch wenig einflußreiche Personen, die ihre Stimme aus ethischen Gründen gegen das Massaker in Tschetschenien laut erhoben haben, und Teile der liberalen Öffentlichkeit waren irgendwie dagegen. Aber in der breiten Bevölkerung sind die Tschetschenen als ethnische Gruppe seit dem 19. Jahrhundert kollektives Haßobjekt. Die tschetschenische Mafia ist in den letzten Jahren zum Sündenbock für den kriminellen Sumpf Rußlands geworden. Schließlich beanspruchte die Armee wenigstens im Kaukasus das, was viele für militärische Stärke halten mögen. Im Westen hingegen genossen die Tschetschenen – ähnlich wie die muslimischen Bosnier – einige Sympathien, die aber in jeder Hinsicht folgenlos blieben. Darauf können die Opfer getrost pfeifen.

Die Vermutung, daß es daher zu einem Terrorismus wie in Nordirland oder im Baskenland kommen könnte, ist sicherlich irrig. Die russische Führung ist durch keinerlei humanitäre Erwägungen gebremst. Ein kaukasischer Flächenbrand ist ebenfalls unwahrscheinlich. Das national-ethnische Denken ist dafür auch im Kaukasus bereits zu stark, und die Religion liefert nicht mehr genug Motivation für einen gemeinsamen Aufstand wie im 19. Jahrhundert.

Das Problem ist vielmehr die Rhetorik der russischen Führung. Sie behauptet, alles im Griff zu haben, und zeigt, daß das nicht wahr ist. Die geradezu wilhelminische Großmäuligkeit schafft eine Diskrepanz mit der Realität, die die russische Führung dazu verführen könnte, die Geiselnahme gewalttätig zu beenden. Für die Tschetschenen allerdings kann es kaum noch schlimmer kommen. Erhard Stölting

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen