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Erst heute, am letzten Spieltag der Bundesliga, entscheidet sich, wer Meister wird - Dortmund oder Bremen? Wenn's die Borussia wird, siegt eine Stadt, wenn's Werder wird, siegt vor allem ein einzelner. Wir bringen ein Sozio- und...

Erst heute, am letzten Spieltag der Bundesliga, entscheidet sich, wer Meister wird – Dortmund oder Bremen? Wenn's die Borussia wird, siegt eine Stadt, wenn's Werder wird, siegt vor allem ein einzelner. Wir bringen ein Sozio- und Psychogramm

Ganz Dortmund gegen Otto Rehhagel

Es war im Sommer 1975. Mit dem Interrail-Ticket ausgerüstet, verunsicherten wir die Strände und Bars der Côte d'Azur. Folgende schmachvolle Episode ist haften geblieben: Als wir eines Abends, mit der Literflasche Billigbier unterm Arm und ins obligatorische Borussia-Trikot gehüllt, zum Strand zogen, entglitt mir mein Getränk und zerschepperte auf dem Betonboden. Viel bitterer als der Verlust der Flüssigkeit war der hämische Kommentar eines norddeutschen Augenzeugen: „Bier trinken können die jetzt in Dortmund auch schon nicht mehr.“ Borussia war damals in der zweiten Liga, und auch der Niedergang von Stahl und Kohle schritt unaufhaltsam voran. Nicht nur die Borussia war down, sondern auch die Stadt und ihre Menschen. Dortmund ist ein anderes Pflaster als München oder Bremen. In keiner anderen Bundesligastadt, den Erzfeind aus Gelsenkirchen vielleicht ausgenommen, gibt es eine derartige Konzentration auf den Fußball. Der war und ist ein zentraler Bestandteil des lokalen Lebensgefühls, und entsprechend wird der Verein noch immer als ein Stück ideeller Besitzstand eines jeden betrachtet. Fußball und Psyche sind nicht zu trennen: Geht es der Borussia schlecht, dann geht es auch den Menschen schlecht – und zwar echt schlecht.

In Dortmund gibt es keine fußballfreien Zonen, was den Spielern, Trainern und Funktionären immer wieder zu schaffen macht. Fünf Kamerateams beim Training von Bayern München sind nichts gegen eine Stadt, in der ständig und überall über den Verein diskutiert wird. Wenn es um die Borussia geht, wird Dortmund zum Dorf. Irgend jemand behauptet, den Turiner Nationalspieler Jürgen Kohler auf dem Ostenhellweg gesehen zu haben. Nur wenig später wird das Gerücht kolportiert, Kohler habe bereits einen Telefonanschluß bestellt. Dortmund benötigt keine Boulevardpresse, jeder ist sein eigener Journalist.

Dortmund, das ist vielleicht der „englischste“ Standort der Liga. In Dortmund führt man sein Trikot nicht nur am Spieltag spazieren. Was logisch ist, denn in Dortmund beginnt der nächste Spieltag bereits am Tag nach dem vergangenen. Das Trikot ist ein akzeptiertes Kleidungsstück, für viele ihr bestes und teuerstes. Die Gründe für diese Verquickung von Fußball und lokaler Psyche liegen in der Geschichte von Stadt und Region.

Als erstes siegte der Fußball über die Kirche

Als die Borussia gegründet wurde, war das Ruhrgebiet das industrielle Herz des damaligen Reiches. Dortmund war eine Arbeiterstadt, viele der Malocher waren Immigranten, für die die Kirche als einzige Institution in der Fremde Orientierung bot. Bis der Fußball kam. Er war den Arbeitern geradezu auf den Leib geschneidert. Nicht nur, weil er billig war, sondern vor allem, weil sich mit ihm Bekanntes verband. Er verlangte Disziplin, Kondition und Kollektivität, aber gestattete auch – im Unterschied zur Industrieproduktion – die kreative Selbstentfaltung. Damit war er der Kirche weit überlegen. Und im Gegensatz zur Kirche geschahen in den Stadien noch Wunder! Die eigentliche Religion des Ruhrgebiets ist seither der Fußball. Mehr als drei Dekaden zählten die Klubs aus dem Ruhrpott zu den besten Adressen im deutschen Fußball. Doch mit der Legalisierung des Professionalismus und der Krise der Schwerindustrie reichte die Ehe von Arbeit und Fußball nicht mehr aus. Borussia verlor den Anschluß. Dem Klub mangelte es an einem modernen Management, das den veränderten Bedingungen Rechnung trug. Dies änderte sich erst wieder mit dem Präsidenten Gerd Niebaum, einem Repräsentanten der neuen lokalen Führungsschicht, dessen Biographie jedoch die eines typischen BVB-Fans ist. Der Anwalt verstand es, zwischen gestern und heute zu vermitteln.

Obwohl das heutige Dortmund auf dem Freizeitsektor weit mehr bietet als „nur“ Fußball, bleibt die Borussia doch das alles beherrschende Thema. Und obwohl nach erfolgreichem Strukturwandel mittlerweile mehr Menschen im Versicherungswesen arbeiten als in der verbliebenen traditionellen Industrie, hat der von Arbeitern geprägte spezifische Ethos der Region überlebt. Wenn es um die Borussia geht, denken die Enkel und Söhne der Stahlkocher und Knappen nicht sehr viel anders als ihre Vorfahren. Wenn der Borussen- Trainer Ottmar Hitzfeld Kritik zu hören bekommt, zielt die auf jene rationellere Spielweise, die er der Mannschaft eingebleut hat.

Typische Produkte dieses Ethos sind die beiden zu Idolen avancierten Sportinvaliden Norbert Dickel und Flemming Povlsen. Dickel absolvierte zwar lediglich 90 Bundesligaspiele für die Borussia, wurde aber trotzdem zur Legende. Nicht nur wegen seiner zwei Tore, die dem BVB 1989 den DFB-Pokal einbrachten, sondern vor allem, weil er für dieses Ziel seine Gesundheit ruinierte. Der dänische Angreifer Povlsen traf zwar in seinen fünf Jahren mit der Borussia ziemlich selten das Tor, war aber mit seinem bedingunslosen Einsatz die Seele des BVB-Spiels.

Um den spezifischen Charakter der Fußballbegeisterung im Ruhrgebiet als solchen zu erkennen, mußte ich erst ins Münsterland ziehen. Natürlich interessiert man sich auch hier für „The People's Game“. Aber man interessiert sich eben nur dafür. Ganz gleich, ob die Leute hier Bayern, Werder oder den BVB unterstützen: Von Leiden, von Tränen, und dies ist der Normalzustand des Fans aus dem Ruhrgebiet, ist hier keine Spur.

Heute, zwanzig Jahre nach der Schmach von St. Tropez, könnte die Borussia mal wieder Meister werden. 32 Jahre des Wartens hätten ein Ende. So oder so: In einem kleinen Ort im Münsterland wird es zumindest einen geben, der um 17.17 Uhr Tränen vergießt. Dietrich Schulze-Marmeling

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