: Atmen, atmen, atmen ...
Gesichter der Großstadt: Die Therapeutin Ilse Middendorf lehrt mit 85 Jahren immer noch an dem von ihr begründeten Institut für Erfahrbaren Atem ■ Von Dorothee Winden
Eine kleine, weißhaarige Dame erklimmt die Stufen zum Podium des Kleistsaals in der Urania. Es ist kein gewöhnlicher Vortrag, den die Atemtherapeutin Ilse Middendorf über den „Erfahrbaren Atem“ hält. Damit die ZuhörerInnen auch erfahren, wovon sie spricht, läßt sie sie eine Vielzahl einfacher, aber sehr effektvoller Übungen machen: „Dehnen Sie sich!“ fordert sie die ZuhörerInnen auf, und der ganze Saal wirft die Arme nach oben und reckt und streckt sich. Middendorf ermuntert das Publikum, dem eigenen Atem nachzuspüren. „Wenn Sie die Arme hochstrecken, spüren Sie, wie Sie automatisch Einatmen. Wenn Sie loslassen, spüren Sie das Ausatmen.“
Atemtherapie nach Middendorf ist eine ganzheitliche Heilmethode für Körper, Seele und Geist. Sie wird vor allem bei psychosomatischen Beschwerden angewandt, wirkt aber auch vorbeugend. „Die Menschen sollen sich entwickeln, um gar nicht erst krank zu werden“, sagt Middendorf. Freies Atmen läßt Leib, Seele und Geist durchlässig werden, so daß innere Prozesse fließen können. Auch gegen Streß und Depressionen hilft Atemtherapie. „Wir müssen uns sammeln, dann empfinden und finden wir uns und können unseren Atem wahrnehmen“, sagt sie in der ihr eigenen Sprache.
Als die Sächsin Ilse Middendorf zwölf Jahre alt war, hörte sie im Garten ihrer Eltern eine innere Stimme: „Du mußt atmen!“ Intuitiv, sagt sie, hatte sie ihren späteren Beruf erkannt. Mit achtzehn ließ sie sich zunächst zur Gymnastiklehrerin ausbilden. Es folgte eine Weiterbildung am Institut für Atem- und Nervenpflege in Baden-Baden. Hier lernte sie Atemübungen, die auf dem willentlichen Atmen beruhen. Doch das, was sie suchte, hatte sie noch nicht gefunden. Sie mußte es selbst entwickeln.
Den entscheidenden Impuls findet sie 1939 bei Cornelis Veening, einem Holländer, der in Berlin Atemlehre unterrichtet. Der Einzelunterricht bei Veening wird für Middendorf zur Sternstunde. „Das war die Form von Atem, die ich so lange schon gesucht hatte.“ Der Unterricht ist sehr teuer. Middendorf verkauft sogar ihre Gardinen, um die Stunden bezahlen zu können. Dreißig Jahre lang arbeitet sie mit Veening und entwickelt ihre Lehre des Erfahrbaren Atems.
Geboren wurde Ilse Middendorf in der sächsischen Kleinstadt Frankenberg. Ihr Entschluß, 1934 nach Berlin zu ziehen und in Lichterfelde eine Praxis zu eröffnen, stieß bei ihren Eltern zunächst auf wenig Gegenliebe. Doch dann bewundern sie den Erfolg ihrer Tochter. Als einige der wenigen Frauen, die zu dieser Zeit den Führerschein machen, kauft sie sich einen alten Opel aus dem Jahre 1924. – Nach dem Krieg gibt Ilse Middendorf Atem- und Bewegungsstunden in Kindergärten, in den fünfziger Jahren unterrichtet sie an verschiedenen Berliner Volkshochschulen. Im Alter von 61 Jahren wird sie zur Professorin an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst berufen, der heutigen Hochschule der Künste, an der sie zehn Jahre lehrt.
1964 sucht Ilse Middendorf dringend neue Räume für ihre Praxis. Bislang muß sie ein Zimmer ihrer Wohnung leer räumen, wenn sie einen Kurs geben will. Durch eine Zeitungsannonce stößt sie auf ideale Räumlichkeiten am Viktoria-Luise-Platz 9. In der ehemaligen Wohnung der Prinzessin Viktoria Luise befindet sich bis heute das Ilse Middendorf Institut für Erfahrbaren Atem. In dem lichtdurchfluteten Saal mit den von weißem Stuck umrahmten Deckengemälden findet der Unterricht statt. Die hohen Türen führen zu einer Terrasse und einem von uralten Pappeln bestandenen Hinterhofgarten. Ilse Middendorf selbst wohnt in der ersten Etage.
Eine ihrer Schülerinnen bezeichnet sie als „weise, starke Frau“, die auch „menschlich ein Vorbild“ sei. Es sei bewunderswert, wie sie ihre Arbeit aufgebaut habe und wie sie sie vermittle. Die 85jährige, die eine ungeheure Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt, arbeitet immer noch ganztags. Sie steht um halb sechs auf, manchmal sogar um fünf. Um sieben, halb acht beginnt sie ihre Arbeit im Institut, das inzwischen ihr Sohn aus erster Ehe, Helge Langguth, führt.
Sie entwickelt ihre Lehre immer noch weiter, gibt Fortbildungskurse für ehemalige SchülerInnen des Instituts und behandelt vereinzelt Klienten. Nach wie vor reist sie viel. Gerade hat sie mehrere Wochen an der Dependance des Instituts in Niendorf unterrichtet, im Juli wird sie Kurse am „Ilse Middendorf Breath Institute“ in San Francisco geben, das ein früherer Schüler vor drei Jahren dort eröffnet hat.
Wie sie das bloß schafft? „Ich spüre sehr deutlich meinen Atem. Wenn ich mich ungeordnet fühle, frage ich meinen Körper, was ich machen muß, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen“, antwortet sie. „Jeder kann lernen, stärker auf den eigenen Körper zu hören. Man braucht nur ein bißchen Geduld.“ Dorothee Winden
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen