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Vom Trostpreis zum großen Los

Frankreichs „Freizeitzentren“ sind auch heute noch so beliebt wie zur Zeit ihrer Entstehung in den ersten Jahren nach der „Befreiung“  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Daß an Mädchen doch ranzukommen ist, erfuhr Michel erst mit 17. So lange mußte der Jugendliche aus einem Dorf im ostfranzösischen Savoyen warten, bis er erstmals an einer Ferienkolonie teilnehmen durfte. Nachdem er sein Heimweh überwunden hatte, entdeckte er in jenen vier Wochen an der Atlantikküste außerdem noch die Reize des Gruppenlebens.

Seither sind viele Jahre vergangen. Michel, der bald nach seiner ersten Ferienkolonie das Bafa- Diplom erwarb, das ihn selbst zum Animateur für Jugendliche machte, arbeitet heute als Gymnasiallehrer und pflegt ein eheliches Verhältnis zum anderen Geschlecht. Aber in den Sommerferien, die in Frankreich zwei Monate dauern, legt er auch weiterhin Wert darauf, Jugendgruppen zu begleiten.

In diesen Gruppen ist Michel dank seiner pädagogischen Ausbildung der Leiter. Und die sommerlichen Veranstaltungen tragen auch nicht mehr die historisch belastete Bezeichnung „Kolonien“. Aber ansonsten ist alles beim alten geblieben. Die „Freizeitzentren“ sind so beliebt wie seit ihrer Entstehung in den ersten Jahren nach der „Befreiung“.

In jener Aufbruchzeit Mitte der vierziger Jahre hatten christliche Organisationen und Gewerkschaften die Sommerfreizeiten als soziale Aktion ins Leben gerufen. Jugendliche aus den großen Städten sollten an die frische Luft kommen und das Land kennenlernen. Die Begünstigten kamen aus dem „gemeinen Volk“, ihre Betreuer waren – meist ehrenamtlich tätige – „Militante“. Die Aktion war die durch Krieg und Besatzung verspätete, aber logische Fortsetzung einer großen Reform der Volksfrontregierung, die 1936 das Recht auf bezahlten Urlaub eingeführt hatte. Frankreichs Strände und Berge, bis dato Ferienparadiese für die Bourgeoisie, sollten dem Volk zugänglich werden. Millionen von Franzosen sind seither in den Genuß der Freizeitzentren gekommen, die sich in einem dichten Netz über das Land ziehen. Die Gemeinden haben Campingplätze und stillgelegte öffentliche Gebäude gekauft, wohin sie ihre Jugendlichen verschicken. Besonders beliebte Objekte sind die alten Schlösser und Burgen, deren Instandhaltung für Privatpersonen unbezahlbar geworden ist. Zigtausende Franzosen verfügen über das Bafa-Diplom, das ihnen ihre ersten Ferienjobs verschaffte. Dazu kommen allerlei Reformpädagogen, die ihre „partizipativen“ und „antiautoritären“ Theorien in den schönsten Wochen des Jahres erproben. Über allen wacht das Ministerium für Jugendliche, das auch den Mindeststandard für die Menüpläne bestimmt.

Von vierjährigen Kindergartenkindern bis zu beinahe Erwachsenen fahren alle Altersgruppen in die Freizeitzentren. Sie haben eine große Auswahl an Aktivitäten – vom Fußball über Kanufahren und Felsklettern bis hin zum Töpfern. Die Kommunen, darunter besonders die verbliebenen sozialistisch und kommunistisch regierten, verschicken sie zu Preisen, die nach einem Sozialkoeffizienten bestimmt werden, der sich aus Kinderzahl, Einkommen der Eltern und Wohnsituation zusammensetzt.

Nach wie vor verbringen die meisten Franzosen ihren Urlaub im eigenen Land, da machen auch die Freizeitzentren keine Ausnahme. Doch im Sozialprogramm der Gemeinden sind längst auch Auslandsreisen. Zu den Zeiten der alten DDR fuhr Michel manchmal mit seinen Zöglingen in Lager der Jungen Pioniere. Beliebt waren auch die kombinierten „Arbeits- und-Freizeit-Urlaube“ in der DDR, in denen sich Erntearbeit und Diskobesuche die Waage hielten und die gratis waren.

Dank de Gaulles und Adenauers Insistenz und der Subventionen der staatlichen Freundschaftsfonds wurden auch die Reisen in die großen Städte Westdeutschlands früh populär – besonders die nach Berlin.

Vom Trostpreis für sozial Schwache sind die Freizeitzentren inzwischen quer durch die Schichten zu begehrten Einrichtungen geworden. Berufstätige Eltern sind froh, wenn sie ihre Kinder während der langen Sommerferien eine Weile los sind, ohne dabei arm zu werden.

Bekannt ist auch, daß die „erste Reise ohne die Familie“ pädagogisch höchst wertvoll ist. Und zum Trost der zurückgebliebenen Eltern machen die Animateure ausgiebig Gebrauch von den modernen Kommunikationsmitteln. In den Freizeiten, die Michel betreut, legt eine gemischte Gruppe von Betreuern und Betreuten allabendlich eine Nachricht in das „Minitel“. An einem Bildschirm im Rathaus können die Eltern am nächsten Morgen die wichtigsten Ereignisse nachlesen: „Wir waren mit den Ponys im Wald.“

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