„Rache am Gebäude zu nehmen ist sinnlos“

■ Christo packt ein und Reichstagsexperte und Ideenspender Michael S. Cullen aus

Der Amerikaner Michael S. Cullen (56) lebt seit 1964 in Berlin. Er war Sachverständiger für den „Umbau des Reichstagsgebäudes zum Deutschen Bundestag“. Seit Ende der siebziger Jahre erforscht er die Geschichte des Reichstages, sein 1983 erschienenes Kompendium kam jetzt in akualisierter Neuausgabe heraus. Er gilt als „der“ Experte des „Reichsaffenhauses“, wie Wilhelm II. den Bau bezeichnete.

taz: Der Reichstag ist ein umstrittenes Gebäude. Worin liegt die Faszination?

Michael S. Cullen: Das Gebäude finde ich außerordentlich wichtig, wenn auch nicht besonders schön. Es ist überladen, nicht grazil, nicht leicht. Aber auch dank meiner Forschungen wird es kontrovers diskutiert. Es war auch meine Idee, den Reichstag zu verhüllen.

Ist der Reichstag nicht ein Wahrzeichen des wilhelminischen Obrigkeitsstaates?

Politisch ist der Wilhelminismus doch anders zu bewerten als architektonisch. Der Reichstag wurde 1894 begonnen als ein Neorenaissancebau und 1894 beendet als Neobarockbau, was die zahlreichen Skulpturen verdeutlichen. Der architektonische Stilbruch erfolgte also schon während der Bauzeit. Der Architekt Paul Wallot mußte erfahren, daß der Umgang eines Parlaments mit seinem Neubau wohl eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt ist.

Und wie beurteilen Sie die Arbeit des Architekten?

Wallots Grundriß ist vorbildlich, ebenso überzeugt die mustergültige Ordnung der Räume zueinander. Durch die Verschiebung des Plenarsaals aus der Achse entstand eine großartige Raumfolge. Dieses riesige Gebäude angesichts der Einflußnahme von Kaiser, Baukommission und Regierung zu realisieren, ist eine großartige Leistung. Doch zugleich war Wallots Architektur imposant und auftrumpfend.

Und somit zugleich ein Herrschaftssymbol?

Je mehr man über das Gebäude weiß, desto differenzierter betrachtet man es: Hier wurde 1897 das Bürgerliche Gesetzbuch verabschiedet, das noch heute gültig ist. Hitler hat dort nie geredet. Außerdem hat es gar keinen Zweck, an Gebäuden Rache zu nehmen für Dinge, die in ihm und an ihm geschehen sind. Es ist töricht, den Reichstag als „böse“ anzusehen und nicht zu benutzen. Soll man ihn etwa wegen des Reichstagsbrandes von 1933 bestrafen, so als hätte er sich selbst in Brand gesetzt? Daß die Nationalsozialisten den Reichstagsbrand zur Verfolgung politischer Gegner nutzten, kann man nicht dem Gebäude anlasten. Angesichts seines Dornröschenschlafs während des Kalten Krieges war er für mich immer ein Denkmal der Offenhaltung der deutschen Frage.

Aber im Dritten Reich hat es doch Versuche zur Funktionalisierung des Hauses gegeben?

Hitler hat den Reichstag nur dreimal betreten: 1921 als vagabundierender Tourist, 1933 zum Antrittsbesuch beim Reichsrat und in der Nacht des Reichstagsbrands. In „Mein Kampf“ äußert er sich mehrmals negativ darüber. Der Reichstag war für die Berlin- Planungen von Albert Speer aber insofern wichtig, als Hitler ihn als maßstäblichen Kontrast für die riesige, 290 Meter hohe „Halle des Volkes“ erhalten wissen wollte.

Nach Kriegsende ist davon ja nicht viel geblieben.

In der Nachkriegszeit wurden die Enttrümmerung des zerschossenen Gebäudes und eine Bestandssicherung betrieben. In dem Zusammenhang wurde am 22. November 1954 die Kuppel gesprengt. Jetzt war Bonn die neue Hauptstadt der Teilrepublik. Rücksichtnahmen auf das Viermächteabkommen vereitelten detaillierte Planungen für eine Regierungsfunktion des Hauses. Erst die Internationale Bauausstellung in Berlin 1957 schloß dann einen Wettbewerb „Hauptstadt Berlin“ ein, der zwar folgenlos blieb, aber das Haus wieder ins Bewußtsein rückte. Der Umbau von Paul Baumgarten Anfang der sechziger Jahre hat bedauerlicherweise den ursprünglichen Grundriß zerstört.

Aus dem Reichstag wird 1999 der Bundestag. Soll der Name „Reichstag“ bleiben?

Bezeichnung und Funktion eines Gebäudes müssen ja nicht übereinstimmen. Es wird wahrscheinlich immer heißen: Der Bundestag im Reichstagsgebäude.

Worin liegt für Sie der Reiz der Verhüllung durch Christo?

Die Kunst tritt damit an die Öffentlichkeit, und Christos Projekt hat nicht zuletzt die Nutzung des Reichstagsgebäudes als Parlamentssitz in die Diskussion gebracht. Es ist eine gelungene Verzahnung von Kunst und Politik.

Interview Frauke Hamann/

Michael Marek

Michael S. Cullen, Wolfang Volz, Christo, Jeanne-Claude: „Dem deutschen Volke“. Bastei-Lübbe, 1995, 338 S.,19,80 Mark

Michael S. Cullen: „Der Reichstag im Spannungsfeld deutscher Geschichte“. bebra 1995, 400 S., 58 Mark