: Nur Jehova war Zeuge
Sektenmitglied soll Tochter und Stieftochter jahrelang mißbraucht haben / Mutter und Großmutter schneiden die Opfer / die 16jährige hat schon zwei Selbstmordversuche hinter sich ■ Von Philipp Maußhardt
Tübingen (taz) – 400mal. „Kannst du dich erinnern, wann es anfing?“ fragt der Richter die 16jährige Jessica. Als sie sieben Jahre alt war, da hat es angefangen und dann nicht mehr aufgehört. 400mal. Immer im Wohnzimmer vor dem Fernseher. 400mal, vielleicht öfter, vielleicht weniger. Wer zählt schon mit, wenn Alltägliches passiert. Papa hat ihr die Hose ausgezogen und sie befingert. Mindestens 320mal, sagt der Staatsanwalt. Kann sein, sagt Jessica. „Ich habe das für normal gehalten.“
Aufgerufen wird die Strafsache 25 Js 9044/91. Angeklagt vor der großen Jugendkammer beim Tübinger Landgericht ist Wolfgang Hauser (Name geändert). Mehrere Jahre lang soll er seine Tochter und seine Stieftochter sexuell mißbraucht haben. „Was sagen Sie dazu, Herr Hauser?“ fragt der Richter. Herr Hauser erklärt sich für unschuldig. Er ist aktiver Zeuge Jehovas und führt ein gottesfürchtiges Leben. Er verteidigt sich mit Bibelsprüchen und mit Staranwalt Rolf Bossi. „Es ist Rache“, meint der Vater und: „An Ihren Früchten werdet Ihr sie erkennen.“
Seit dreieinhalb Jahren wohnt Jessica nicht mehr zu Hause, sondern in einem Heim. Seit dreieinhalb Jahren sind die Vorwürfe gegen ihren Vater bekannt, seit dreieinhalb Jahren wartet sie auf den Prozeß. Zweimal hat sie in dieser Zeit versucht, sich das Leben zu nehmen. Dem Druck, der auf ihr lastet, ist sie nicht gewachsen. Sie hatte ihren Vater gern, sagte sie dem Ermittlungsrichter und den PolizistInnen, viel lieber als ihre Mutter.
Gegen seine Aufdringlichkeit hat sie sich nie gewehrt. Erst durch den Sexualkunde-Unterricht in der sechsten Klasse begriff sie, was ihr Vater da macht. Dann erzählte sie es einer Schulfreundin, und die zweite Katastrophe nahm ihren Lauf: Die Vertrauenslehrerin erfuhr davon, dann das Jugendamt und dann die Polizei. Jessica wurde aus der Familie genommen und den Eltern ein Kontaktverbot erteilt. „Ich habe keinen Vater mehr“, sagt sie heute.
Jessica lacht, als sie den Gerichtssaal betritt. Jessica lacht auch noch, als sie dem Richter von ihrer Kindheit erzählt. Jessica weint, als sie über die Abende in der kleinen Dreizimmerwohnung berichten muß, wenn die Mutter biertrunken schon im Bett lag und Papa sie wieder auf die Couch zog. Sie will nicht, daß die Öffentlichkeit während ihrer Aussage ausgeschlossen wird. Sie spricht schnell und undeutlich. Auf dem viel zu großen Zeugenstuhl versinkt sie fast vor Scham. „Einmal hat er versucht, ihn reinzutun.“
Zwei Stunden lang wiederholt das Kind, was es schon mehrfach der Polizei und einem Ermittlungsrichter berichtet hatte. Nach der ersten polizeilichen Vernehmung vor drei Jahren wollte sie im Heim aus dem Fenster springen. Danach brachte man Jessica in die Kinderpsychiatrie, bis sie wieder vernehmungsfähig war. Nach der zweiten Vernehmung versuchte sie sich die Pulsadern aufzuschneiden.
„Nichts, aber auch nichts daran ist wahr“, sagt der Vater. Faul und verlogen sei seine Tochter, in der Schule habe sie nichts gelernt. „Das Familienleben war in Ordnung. Jeder hat bekommen, was er brauchte.“ Die Mutter sitzt im Gerichtssaal und schweigt. Sie verweigert jede Aussage. Der Opa von Jessica sitzt ebenfalls auf der Anklagebank. Eines schönen Nachmittags, als die damals achtjährige Jessica ihm wie immer die Zeitung brachte, hat er sie zu sich gezogen und, in den Worten Jessicas, „unten rumgemacht“. Oma sitzt nun in der ersten Reihe und hustet immer, wenn die Verhandlung wieder Peinliches zu Tage fördert. Nein, der Opa tut doch sowas nicht und Jessica ist ein verdorbenes Luder.
Auch Bianca, die Adoptivtochter der Hausers, ist eine Sünderin, sagt der fromme Vater. „Sie hat Ehebruch begangen, und das dulde ich nicht. Darum habe ich sie aus der Wohnung geschmissen.“ Gebrochen worden ist schon etwas, da hat er recht. Nur um von zu Hause wegzukommen, hat Bianca mit 16 Jahren geheiratet – den Bruder ihres Adoptivvaters. Ihrem zwölf Jahre älteren Ehemann erzählte sie, wie „der Papa“ sie behandelt hat und wie er einmal, als die Zeugnisnoten schlecht waren, ihr mit dem Kochlöffel gedroht hat. „Ich mußte ihn mir in die Scheide stecken, dann versprach er, mich nicht zu verprügeln.“ Geholfen hat der Ehemann ihr nicht, die Ehe ist längst kaputt. „Er hat mir nicht geglaubt.“ Bianca ist heute 22 Jahre alt. „Haben Sie das alles inzwischen verdrängt?“ will der Richter wissen und meint es einfühlend. „Nein, verarbeitet“, sagt Bianca.
Drei Verteidiger beraten den Vater und den Großvater, unter ihnen der teure Rolf Bossi. Doch der hält sich auffallend zurück, schließt die Augen und lächelt gequält, wenn Vater Hauser wieder die Bibel bemüht. „Es kann sein“, sagt der Staatsanwalt in einer Verhandlungspause, „daß wir hier einen subjektiv Unschuldigen verurteilen.“
Der Angeklagte, der nach Gottes Geboten lebt, hat nicht getan, was man ihm vorwirft, kann gar nicht getan haben, was man ihm vorwirft, weil dann das letzte, an dem er sich noch festhalten kann, zusammenbrechen würde. Auch Vater Hauser weint, weil man ihm diese Schande einer öffentlichen Gerichtsverhandlung antut. Dabei wollte er doch immer nur das Beste für seine Kinder. Nach dem zweiten Selbstmordversuch von Jessica beispielsweise hat er noch versucht, das Krankenhaus von einer Bluttransfusion abzubringen. „In den Blutkonserven ist das Blut toter Russen oder vergiftetes Junkieblut aus Amerika“, glaubt er.
Jessica hat ihren Vater während der Verhandlung nicht einmal angeschaut. Zu ihrer Mutter drehte sie sich um, doch die blieb starr. Jessica ging aus dem Gerichtssaal hinaus zurück in ihr Heim. Dort verschwand sie am vergangenen Samstag und wurde spät in der Nacht völlig verstört aufgefunden. Sie war nicht mehr ansprechbar. Seither ist sie wieder stationär im psychiatrischen Krankenhaus. Am heutigen Mittwoch wird das Urteil verkündet. Jessica hat ihres schon: lebenslänglich.
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