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Trauriger Dinosaurier

Deutschlands 2:0 gegen Italien zeigte, daß für Lothar Matthäus kein Platz mehr im Team ist  ■ Aus Zürich Markus Götting

Mehmet Scholl hatte sich schnell im Kabinengang verdrückt, begleitet von rotleuchtenden Silvesterraketen. Und auch die Kollegen suchten schnellstmöglich die schützenden Gemächer des Zürcher Letzigrundes auf, nachdem das Freundschaftsspiel gegen Italien beim Dreiländerturnier in der Schweiz abgepfiffen war. Reichlich geschockt reagierte Deutschlands Balltreter-Elite auf die temperamentvollen Zuneigungsbekundungen, die trotz einer 0:2-Niederlage der italienischen Mannschaft widerfuhren. Das Vertrauen der DFB-Kicker in die stämmigen und martialisch uniformierten Bodyguards hatte sich erheblich reduziert, nachdem schon kurz vor Spielende die Fußballfreunde aus dem Süden das Spielfeld umsäumt hatten.

Dort, wo Ordner, offenbar aus Furcht vor mächtigen Böllern, die zuvor einen Feuerwehrmann erheblich verletzt hatten, keine Intervention wagten, bellte des Deutschen bester Freund Attacke. Und tatsächlich ließen sich die Ultras, die ohne Zweifel zum hartgesottensten der italienischen Hooligan-Szene gehörten, von heftigem Zähnefletschen zunächst in die Flucht schlagen. „Da kann man sehen“, sagte später Egidius Braun, Präsident des Deutschen Fußballbundes, „welche Wirkung ein einziger Hund zeigt.“

Das Vorkommnis illustrierte zweierlei. Einerseits siegten die teutonischen Tugenden – Ordnung, Fleiß, Disziplin, Schäferhund – über die südländischen Emotionen, andererseits sind die Fußathleten aus dem Stiefelland auch in der Niederlage des Volkes Helden. Würstchenverkäufer, die ihren Stand vor dem Bus der „squadra azzurra“ aufgebaut hatten, waren zu Tränen gerührt beim Anblick ihrer frisch geduschten Idole, und die Fans waren nur unter Androhung von Prügel vom Ordnungspersonal zu bändigen.

Als die deutschen Spieler, deren Treffer Thomas Helmer (erstes Tor im 35. Länderspiel) und Paolo Maldini (Eigentor) erzielten, sich zum Hotel aufmachten, wollte von ihnen keiner was wissen, obwohl sie heute gegen die Schweiz gute Chancen haben, das Turnier zu gewinnen. Vermutlich wäre von den wenigen deutschen Fans unter den 17.000 Zuschauern nur dann etwas zu hören gewesen, wenn ihre Mannschaft verloren hätte.

Das aber wollte Bundestrainer Vogts nun überhaupt nicht zulassen. Wenngleich der oberste Disziplinwächter vor dem freundschaftlichen Vergleich noch davon geredet hatte, man wolle „ein bißchen Spaß haben“, zeigte er während des Spiels die bekannte wadenbeißerische Unerbittlichkeit. Mochte der Gegner auch das halbe Feldpersonal austauschen, Vogts trieb jene, die ihm noch geblieben waren, zu gebotener Seriosität. Nur der zu Beșiktaș Istanbul abwandernde Kuntz durfte etwas früher Feierabend, nämlich in der 82. Minute dem Stuttgarter Bobic Platz machen, die anderen mußten durchhalten. Dies galt auch für den Freiburger Jörg Heinrich, der bei seinem ansprechenden Debüt immerhin die Flanke zu Maldinis Eigentor lieferte.

Über den sportlichen Stellenwert des Ferienkicks läßt sich trefflich streiten, zumal Kohler, Klinsmann, Herrlich, Strunz, Basler und Möller fehlten. Aber: „Das war ein Achtungserfolg für mich und meine Kollegen, die in Italien gespielt haben“, sagte Thomas Häßler, und obwohl beide Mannschaften offensichtlich „urlaubsreif waren“ (Torwart Andreas Köpke), blieb es ein ansehnlicher „Prestigekampf“, meinte der wackere Verteidiger Markus Babbel.

Und keiner bekam das so sehr zu spüren wie der Münchner höchstselbst in seiner Auseinandersetzung mit Pierluigi Casiraghi, dem „Dreckshund“ (Babbel), der beinahe die gesamte deutsche Defensivabteilung „tätowiert“ hat, wie sich der Bayern-Balltreter im regionalüblichen Idiom ausdrückte. Deshalb habe er dem Italiener mittels Ellenbogenchecks zeigen wollen, „daß die Deutschen auch austeilen können“. Solch kernige Eigenschaften pflegt Vogts zu goutieren, weshalb der furchtlose Babbel sich durchaus Hoffnungen machen kann, auch nach Jürgen Kohlers Genesung als zweiter Manndecker dabei zu sein.

Das unterscheidet ihn freilich von seinem Klubkollegen Lothar Matthäus, der vom fußballerischen Abstellgleis nicht so recht in den Hauptbahnhof zurückfindet. Für ihn scheint derzeit kein Platz im Team zu sein. Das Wechselspiel auf der Liberoposition zwischen Matthias Sammer und Thomas Helmer funktionierte gegen die Italiener mit zunehmender Spieldauer immer besser – und daß gerade Helmer, der auch daheim an der Säbener Straße die Hierarchie durcheinandergewirbelt hat, das Wohlwollen des deutschen Übungsleiters genießt, dürfte dem urlaubenden Lodda heftigen Verdruß bereitet haben.

Nicht einmal die geballte publizistische Kraft des Springer-Verlages vermag eine Trendwende zugunsten des fränkischen Dampfplauderers einzuleiten. Dank Bild- Zeitung bleibt Matthäus trotz körperlicher Abstinenz allgegenwärtig und ließ sich am Mittwoch zu später Stunde per Handy vom Lieblingsreporter noch schnell die Ereignisse im Letzigrund schildern. Zuvor hatte Matthäus in Sportbild ein Klagelied auf den Vogtsschen Liebesentzug anstimmen dürfen, derweil der Bundestrainer Matthias Sammer als gesamtdeutsche Integrationsfigur und Kapitän der Zukunft propagierte. Und selbst wenn Interims- Lösung Häßler dem Rekordnationalspieler „noch weitere 122 Länderspiele“ wünscht, so reduziert sich die Zahl der Matthäus- Freunde proportional zu der seiner Interviews. Sein Gerede, sagte Helmer, „muß er selber verantworten“. Und irgendwie klingt das Gejammer wie das letzte Zucken eines aussterbenden Dinosauriers.

Italien: Pagliuca - Benarrivo (46. Carboni), Ferrara, Minotti (46. Petruzzi), Maldini - Eranio (57. Statuto), Di Matteo, Albertini, Berti (46. Del Piero) - Casiraghi, Zola (65. Signori)

Zuschauer: 15.000; Tore: 1:0 Helmer (4.), 2:0 Maldini (38./Eigentor)

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