: Auf Patrouille in Cuc Phuong
Der Dresdner Tierforscher Tilo Nadler verteidigt den ältesten Nationalpark Vietnams im Delta des Roten Flusses gegen Behörden, Wilderer und Holzdiebe ■ Von Volker Klinkmüller
Kaltes Neonlicht erhellt die brutale Szenerie. Mit aufgerissenen Augen rütteln verängstigte Affen an den Gitterstäben ihrer Käfige. Gleich daneben quälen sich zusammengerollte Schuppentiere zu Dutzenden in engen Drahtkörben. In einer anderen Ecke wechseln massenhaft Hörnchen und Schildkröten den Besitzer. Und dort drüben verschwinden prächtige, meterlange Pythonschlangen in stabilen Plastiksäcken. Zum Stückpreis von 20 Dollar werden sie an reiche Chinesen verschachert, die sich daraus einen Partyknüller brutzeln oder Schlangenschnaps herstellen. Wenn sich Tilo Nadler auf dem Tiermarkt in Hanois Altstadt umsieht, steigt sein Adrenalinspiegel. Denn der 52jährige Biologe ist an den Tieren nicht als kulinarischen Leckerbissen oder Zutaten für irgendwelche Potenzmittel interessiert. „Ungefähr zwanzig gefährdete Tierarten werden hier gehandelt“, hat der Dresdner Naturschützer herausgefunden.
Bereits vor über drei Jahren hat Vietnams Regierung den Handel mit exotischen Tieren untersagt. „Doch gefangen wird alles, was sich bewegt!“ beklagt Nadler. Seit Januar 1993 versucht er im Auftrag der „Frankfurter Zoologischen Gesellschaft“ und mit Unterstützung des „Allwetterzoos Münster“, die Vietnamesen im Naturschutz zu unterweisen. Um Wilderern und Holzdieben das Handwerk zu legen, läuft er täglich Patrouille im Cuc-Phuong-Nationalpark. Rund 100 Kilometer südlich der Hauptstadt Hanoi erhebt sich die Schutzzone aus einer weiten Schwemmlandebene: tropenbewaldete, bis zu 648 Meter hohe Kalksteinformationen, die in zwei verkarsteten Gebirgszügen parallel zueinander verlaufen und in ihrer Mitte ein Tal mit außergewöhlich fruchtbarem Klima bilden. „Zum Roden zu schade“, hatte eine Kommission vor dreißig Jahren befunden. Das war die Geburt des ersten von heute sieben Nationalparks in Vietnam.
Mehrere Stunden dauert die Anfahrt durch das Delta des Roten Flusses, das mit einem jahrhundertealten System aus Reisfeldern, Dämmen und Kanälen kultiviert ist. Hier lebt ein Drittel aller Vietnamesen. Jeder Quadratmeter wird landwirtschaftlich genutzt, kein Gewächs ist höher als drei Meter. Und dann taucht er plötzlich auf – nahezu unberührter Regenwald, wie er zwar in allen Indochina-Kriegsfilmen vorkommt, aber im heutigen Vietnam kaum noch zu finden ist. Doch das eigentliche Wunder ist: Auf dieser inselartigen Fläche von nur 250 Quadratkilometern tummeln sich in unerforschten Grotten, zwischen uralten Baumriesen und einer bemerkenswerten Flora 36 Reptilienarten, 90 verschiedene Säugetiere, 150 Vogelarten und 1.800 Arten Insekten.
Die Fauna von Cuc Phuong hat aber noch ganz andere Sensationen aufzuweisen. Keine Tiger, Panther, Leoparden und Bären, wie es ein deutsches Reisebuch gern weismachen möchte. Aber zahlreiche Tierarten, die es in der übrigen Welt nicht mehr gibt oder noch nie gegeben hat. Wie zum Beispiel den Cuc-Phuong-Wels (Silurus cucphuongensis), der – bis zu 30 Zentimetern lang – in den Höhlengewässern des Parks gründelt. Oder auch drei auf der Welt einmalige Arten von Landkrabben. Besonderes Augenmerk gilt jedoch dem Delacour-Languren, den die Vietnamesen wegen seiner auffälligen schwarzweißen Fellzeichnung als Kurze-Hosen-Affen bezeichnen. Er galt bereits als ausgestorben. Wie durch ein Wunder gibt es in Cuc Phuong noch vermutlich fünfzig Exemplare davon.
Die erste Spur zur Wiederentdeckung hatte Tilo Nadler mit seinem Kollgen Hans-Jörg Adler (Zoodirektor in Münster) 1991 auf dem Tiermarkt von Hanoi entdeckt. „Dort wurde der rund 80 Zentimeter lange Schwanz eines Delacour-Languren als Staubwedel angeboten“, erinnert er sich. Vor kurzem konnten sogar fünf Exemplare dieses blätterfressenden Schlankaffens konfisziert werden, die Wilderer mit Netzen gefangen hatten. Sie werden im Hauptquartier des Cuc-Phuong- Nationalparks im Gehege gehalten. Zuchtversuche sind genauso geplant wie ein Trainingszentrum für staatliche Wildhüter. Insgesamt drei Jahre Zeit wurden Nadler bewilligt, um die Vietnamesen im Nationalpark-Management zu unterrichten und die Wunder von Cuc Phuong zu retten. Doch schon jetzt fühlt sich der Dresdner Hobbybiologe, der bisher Forschungsprojekte in der Antarktis, Afrika und China geleitet hat, manchmal am Ende.
Trotzdem geht Nadler mit ungebrochenem Elan auf Spähtrupp. Ihm auf den Fersen zu bleiben ist nicht gerade einfach. Erst geht es auf einem schmalen Pfad, dann ein Bachbett entlang. Wir zwängen uns durch eine Ansammlung mannshoher Felsen, kraxeln einen rutschigen Abhang hinauf. Von seinem schnellen Schritt überrascht sind sogar die drei Gestalten, die es sich auf einer Lichtung gemütlich gemacht haben. Vor Schreck lassen sie ihre Plastiklatschen zurück, als sie mit einem Jutesack Hals über Kopf die Flucht ergreifen. „Die haben wahrscheinlich gerade Schildkröten eingesammelt“, brummelt Nadler in seinen Vollbart. Auf eine Verfolgung will er heute verzichten. Bereits gestern ist er vergeblich durchs Unterholz gekrochen, „um fünf illegale Holzfäller zu fangen“. Hautabschürfungen auf seinen Armen und der Stirn belegen das.
Obwohl dem Nationalpark in internationalen Studien höchste Priorität eingeräumt wird, ist er kaum gegen die rasante, systematische Zerstörung durch Wilderer und illegalen Holzeinschlag zu verteidigen. Auf die Behörden im nahen Hanoi, die sich vor allem durch eine zermürbende Bürokratie hervortun, kann der frühere Diplomingenieur nur bedingt zählen. Das hat er gleich am Anfang erfahren: Tagelang war Nadler ausschließlich unterwegs, um seinen Geländewagen anzmelden. „Ich habe es auf 27 Stempel und 74 Unterschriften gebracht, bevor ich mich das erste Mal ans Steuer setzen durfte“, erzählt er, als wir über die schmale Schotterpiste rumpeln, die das rund 25 Kilometer lange und 10 Kilometer breite Naturschutzgebiet durchschneidet.
Wir sind unterwegs zu einem Dorf der Muong, eine der fast sechzig ethnischen Minderheiten in Vietnam. Ein Teil dieses Volksstamms hat das Parkinnere bereits verlassen. Schmale Lichtungen entlang der Straße zeugen als letzte Überreste von ihren Siedlungen und Feldern. Aber am Südost- und am Nordwestende des Parks leben noch zweitausend Menschen, die mit einem Langzeitprogramm ins Umland ausgesiedelt werden sollen. Aus diesen Siedlungen stammen die meisten Wilderer, die überall im Park ihre Spuren hinterlassen: frische Lagerplätze mit ausgetretenen Feuerstellen oder Überreste erlegter Tiere und Schüsse, die gelegentlich sogar aus Schnellfeuergewehren abgegeben werden. Die Wilderer scheren sich weder um das Jagdverbot noch um die 75 Ranger, die ihnen – demotiviert durch unzureichende Ausrüstung und schlechte Bezahlung – kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Von einer Schar neugieriger Kinder werden wir am Ortseingang empfangen. Die älteren Bewohner sind eher scheu und zurückhaltend. Wie lukrativ die Jagd geworden ist, zeigen die prächtigen Steinhäuser der Jäger, die heute als Wilderer gelten. „In Gesprächen mit ihnen habe ich viel über die Gewohnheiten bestimmter Tiere erfahren. Sogar zu ihren Jagd- und Fangmethoden konnte ich sie befragen“, erzählt Nadler. In zwei Fällen sei es sogar gelungen, Wilderer zu Wildhütern zu machen. Der Deutsche hat aber auch herausgefunden, wofür die zoologischen Kostbarkeiten Vietnams herhalten müssen. „Dreimal aufkochen lassen, den Kessel bei Vollmond Richtung Süden schwenken und vier Tage ziehen lassen“, zitiert Nadler ein altes Rezept, nach dem sich aus einem Affen zähflüssiger Sirup mit angeblich wirkungsvoller Heilkraft gewinnen läßt.
Religiös-medizinische Binsenweisheiten haben der Tierwelt genauso zugesetzt wie exotischer Gaumenkitzel. Die Anzahl freilebender Tiger, die seit der Jahrhundertwende weltweit von schätzungsweise hunderttausend auf siebentausend Tiere zusammengeschrumpft ist, wird für Indochina nur noch mit fünfhundert angegeben. Rund 60.000 Dollar bringt ein komplettes Tier, 320 Dollar kostet allein die Suppe aus Tigerpenis in Taiwan. Auch in Kambodscha hat nun der große Kahlschlag eingesetzt. Mit der systematischen Abholzung des Tropenwalds verlieren bedrohte Arten in atemberaubender Geschwindigkeit ihre Rückzugsgebiete. Laos zum Beispiel verfügt zwar noch über 47 Prozent seines Primärwalds. Aber man kann stundenlang darin spazierengehen, ohne eine einzige Tierstimme zu vernehmen. Jäger haben die Natur abgeräumt, vor allem Braun- und Sonnenbären ins Ausland vermarktet. Als wichtigste Drehscheibe für illegalen Tierhandel gilt Thailand, das heute nur noch über ein Zehntel seines ehemaligen Wildtierbestands verfügt. Bärentatzenragout, Geckos am Spieß oder frisches Affenhirn finden sich trotzdem noch auf den Speisekarten in Bangkoker Restaurants.
Im Cuc-Phuong-Nationalpark werden die meisten Tiere heute lebend gefangen. Nur selten noch dienen sie dem Eigenverzehr, denn schließlich sind hohe Preise zu erzielen. Die Öffnung Vietnams für Touristen hat den Feinschmeckerrestaurants ungeahnte Zuwachsraten beschert. Geschäftsleute aus Japan, Hongkong und Singapur lassen den Handel mit Wildtieren zusätzlich florieren. Als Haustiere beliebt sind vor allem die possierlichen Gibbonbabys. „Für jedes Jungtier, das gefangen wird, muß allerdings die Mutter abgeschossen werden“, sagt Nadler. Bei seinen Marktbesuchen zählt er die Opfer in den Käfigen, schickt entsprechende Statistiken an die Regierung. „Natürlich haben wir Überlegungen zum Freikauf wilder Tiere angestellt. Aber das würde ja nur wieder Neubeschaffung auslösen.“ Und gegen eine Konfiszierung sträubt sich das zuständige Ministerium – mit der Begründung, Jäger und Händler nicht finanziell entschädigen zu können. „Aber wieso“, so fragt sich Nadler, „muß man Wilderer und Hehler eigentlich entschädigen?“
Um bei den Vietnamesen mehr Verständnis für Naturschutz zu wecken, wurde der Nationalpark für Besucher geöffnet. Bis zu vierhundert vietnamesische Gäste strömen sonntags nach Cuc Phuong. Westliche Besucher sind noch selten, zumal diese Region nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist. Lediglich ein holländischer Reiseunternehmer und ein Asienspezialist aus Aschaffenburg haben den Park für Gruppenreisen entdeckt. Aber daß Vietnam auf den Tourismus setzt – im vergangenen Jahr wurden bereits fast eine Million Einreisen von Ausländern registriert –, ist auch in Cuc Phuong zu spüren. Am Eingang des Nationalparks wurde ein zweiter Gästetrakt gebaut, der die Zimmerzahl auf rund 22 erhöht. „Ich bin für den Tourismus“, bekräftigt Nadler. „Denn nur so kann ich die Öffentlichkeit über die Gefährdung des Parks informieren.“
Es gibt bereits zehn Wanderpfade, die zwischen 5 und 23 Kilometer lang sind. Sie führen beispielsweise zur „Cave of Earlyman“, in der Knochengerippe und Steinwerkzeuge prähistorischer Menschen gefunden wurden. Oder zum „Dracontomelum duperreanum“, einem rund tausend Jahre alten Baum mit unglaublichen 25
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Metern Stammesumfang und 45 Metern Höhe. An den Rändern der festgelegten Wege deuten bizarre oder auch ganz bunte Gewächse die Vielfalt von über zweitausend Pflanzenarten an, die in Cuc Phuong registriert wurden. Als größtes Wunder wird aber immer wieder der dichte Regenwald angesehen. „Besonders die jüngeren Vietnamesen versinken in andächtiges Staunen“, hat Nadler beobachtet. „Denn die haben in ihrem Leben bisher selten zwei Bäume nebeneinander gesehen.“
Vietnam ist kahlrasiert, hat nach Schätzungen von Experten nur noch 8 bis 9 Prozent tropischen Primärwald. Einst war das Land reich daran (1943 noch 44 Prozent). Doch der amerikanische Krieg, auf den am Eingang des Cuc-Phuong-Nationalparks lediglich die rostigen Trümmer einer abgeschossenen B-52 hinweisen, hat der Natur schwere Wunden zugefügt. 72 Millionen Liter Herbizide (Agent Orange, Agent White und Agent Blue), 13 Millionen Tonnen Sprengstoff und rund 400.000 Tonnen Napalm sind auf Vietnam niedergegangen. Annähernd zwei Millionen Hektar Wald wurden auf diese Weise zerstört. Der Vernichtungsfeldzug kam mit dem Kriegsende 1975 nicht zum Stillstand. Noch immer bedient sich die Holzindustrie an den Restbeständen – genauso wie die Bevölkerung, für die Holz die wichtigste Energiequelle darstellt.
Das gilt natürlich auch für die 272 Familien, die noch im Park leben. Bis die Regierung endlich weitere Gelder zur Aussiedlung bewilligt, wird in ihrem Umkreis weiterhin Baum für Baum verschwinden. Es kommt sogar vor, daß in mühevoller Handarbeit ein Urwaldriese niedergestreckt wird – nur um an die begehrten Früchte in der Krone zu gelangen. Manchmal werden aber auch ganze Berghänge über Nacht gerodet und statt dessen das Grundnahrungsmittel Maniok oder Mais angepflanzt. „Einer Siedlung haben wir kostenlos Eukalyptussetzlinge angeboten. Die wachsen in sieben Jahren zu phantastischem Brennholz heran“, erzählt Nadler. Doch offenbar scheint es bequemer, sich in freier Natur zu bedienen. Das Projekt jedenfalls sei auf Ablehnung gestoßen. Begründung: Das Dorf könne seinen Eukalyptuswald nicht dauernd gegen Holzdiebe aus den benachbarten Siedlungen bewachen!
Gegen solche Argumente ist Nadler machtlos. So beschränkt er sich weiterhin darauf, die Siedler im Park aufmerksam zu beobachten – und lugt mit seinem Feldstecher auch mal zwischen den Pfahlbauten hindurch. Die Dämmerung naht, leichter Feuerschein und aufsteigender Rauch verraten, wo bereits das Abendessen gart. Hinter einer Bambushütte werden Fleischstücke und Knochen mit beilartigen Messern zerhackt. Um einen geschützten Affen oder einen seltenen Fleckenroller handelt es sich dieses Mal nicht. „Heute steht nur Hund auf dem Speiseplan“, bemerkt er fachmännisch.
Cuc-Phuong-Nationalpark:
Visum: erhältlich für 148 Mark bei der vietnamesischen Botschaft, Konstantinstr. 37, 53179 Bonn, Tel.: 0228/357021, Fax: 0228/351866
Anreise: von Hanoi mit dem Mietwagen. Zum Cuc-Phuong-Nationalpark, der in der Nähe des Orts Ninh Binh liegt, sind es zwar nur rund 100 Kilometer. Durch die schlechten Straßenverhältnisse nimmt diese Fahrt aber drei oder mehr Stunden in Anspruch.
Pauschalreisen: „Reisefieber“ Roßmarkt 24–26, 63739 Aschaffenburg,
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