■ Für eine zivilgesellschaftliche Demokratisierung der EU
: Europa braucht Öffentlichkeit

Europa gilt vielen als Gegenmodell zu nationalistischer Engstirnigkeit und regionalistischem Egoismus. Als politische Struktur kann es aber nur überzeugen, wenn es sich auf eine gemeinsame europäischen Zivilgesellschaft stützen kann.

Zu Pfingsten nahm in Messina (Italien) die „Reflexionsgruppe“ der Europäischen Union ihre Arbeit auf. Diese soll die Beschlußvorlagen für die im Herbst 1996 beginnende Regierungskonferenz Maastricht II liefern. In diesem Vorbereitungsausschuß arbeiten VertreterInnen der Mitgliedsstaaten, der Kommission und des Parlamentes zusammen. Dabei scheint sich bereits ein gemeinsames Ziel herauszuschälen. Die Europäische Union (EU) soll handlungsfähiger werden, gerade auch vor dem Hintergrund einer möglichen Erweiterung auf bis zu 27 Staaten.

Deshalb soll das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat weiter eingeschränkt und durch Mehrheitsabstimmungen ersetzt werden. Ausgleichen will man die Souveränitätsverluste der Mitgliedsstaaten durch eine Aufwertung des Europäischen Parlaments (EP). Das bisher nur selten anwendbare Verfahren der Mitentscheidung – das dem EP praktisch ein Vetorecht einräumt – soll künftig immer dann gelten, wenn die RegierungsvertreterInnen im Ministerrat mit Mehrheit abstimmen.

Dahinter steht offensichtlich die Vorstellung, daß die EU sich auf lange Sicht dem Aufbau eines konventionellen Nationalstaates angleichen soll. Endziel wäre dann eine Struktur mit dem Parlament als eigentlichem Gesetzgeber und der Verwandlung des heute noch maßgeblichen Ministerrats in eine zweite Kammer – ähnlich dem deutschen Bundesrat.

Allerdings dürfte eine Legitimationsstrategie, die sich allein auf eine formelle Aufwertung des Europäischen Parlaments stützt, deutlich zu kurz greifen. Denn ein Parlament ist in Legitimationsfragen immer nur so „leistungsfähig“, wie das zivilgesellschaftliche Fundament, das es trägt. Es wird zahnlos bleiben ohne den wechselseitigen Bezug zu einer kritischen Öffentlichkeit, die das Parlament anhält, seine Kontroll- und Gestaltungsbefugnisse wahrzunehmen. Ein Europäisches Parlament mit Entscheidungsmacht, aber ohne zivilgesellschaftliche Einbettung ist nur eine Spielwiese für LobbyistInnen. Die Schaffung von Öffentlichkeit für europäische Politik muß daher Dreh- und Angelpunkt aller Demokratisierungsbemühungen sein.

Beginnen könnte jeder EU-Mitgliedsstaat bei sich zu Hause, indem den jeweiligen Parlamenten Mitsprache bei der Bestimmungen der unionswärtigen Regierungstätigkeit eingeräumt wird. Beispielgebend ist Dänemark. Dort müssen sich die RegierungsvertreterInnen in wichtigen Fragen die Weisungen des Parlaments mit auf den Weg nach Brüssel geben lassen. Dies führt nicht nur zu einer größeren demokratischen Anbindung der dänischen EU-Politik, sondern auch zu einer anderen Wahrnehmung der EU in der dänischen Öffentlichkeit. Die EU ist dort nicht nur ein ferner Sachzwanglieferant, sondern ein Ort, an dem wichtige Entscheidungen fallen; diese gilt es vorher zu Hause intensiv zu diskutieren. Der Bundestag dagegen gibt nur rechtlich unverbindliche Stellungnahmen ab und erledigt seine EU-Aufgaben denn auch mit gewisser Nachrangigkeit.

Zu den fünfzehn mitgliedstaatlichen Teilöffentlichkeiten muß eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit hinzutreten. Derzeit führt jedoch die Geheimnishuberei in Brüssel dazu, daß man Informationen über Diskussionsverlauf und Interessen im Ministerrat vor allem – wenn überhaupt – durch die nationalen Ministerien erhält. Die Standpunkte der anderen Staaten können dabei nur durch den nationalen Filter wahrgenommen werden.

Schon unter demokratischen Aspekten ist es inakzeptabel, daß der Gesetzgeber unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagt. Für die Regierungen dürfte es allerdings einer der Hauptvorteile der europäischen Zusammenarbeit sein, sich hinter selbstgeschaffenen Brüsseler Sachzwängen verstecken zu können. Erst jüngst wies der Rat wieder die Forderung nach Öffentlichkeit seiner Sitzungen ab.

Eine hoffnungsvolle Verschränkung nationaler Interessen findet dagegen bereits seit einiger Zeit im Europäischen Parlament statt. Die sich quer zur nationalen Herkunft organisierenden Fraktionen stellen einen Keim gemeinschaftlicher Öffentlichkeit dar. Dort muß zumindest versucht werden, Argumentationen auf transnationale Interessen zu gründen. Noch immer sind die Befugnisse des EP lückenhaft und unsystematisch, aber nach verschiedenen „Aufwertungsrunden“ ist es inzwischen zu einem ernsthaften Mitspieler bei der EU- Gesetzgebung geworden. Dementsprechend wird es nun auch von den Medien etwas weniger vernachlässigt.

Als Gegengewicht zu den Lobbys der gewerblichen Wirtschaft müssen auf europäischer Ebene auch nichtkommerzielle Interessenverbände stärker präsent sein. Die Europäisierung sozialer Bewegungen wird allerdings behindert durch die Diskurskosten. Die Wege werden weiter, und die Überwindung von Sprachbarrieren ist teuer. Zum Vergleich: In der Kommission ist knapp ein Viertel aller MitarbeiterInnen mit Übersetzungsarbeiten beschäftigt. Da gerade Interessengruppen, die einem nichthierarchischen Politikstil verpflichtet sind, auf interne und externe Kommunikation angewiesen sind, müssen integrationsbedingte Zusatzkosten aus dem EU- Haushalt gedeckt werden. Zur Vermeidung paternalistischer Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber der Kommission ist es erforderlich, daß die Alimentierung sozialer Bewegungen unmittelbar in den EG- Verträgen garantiert wird.

Europaweite Volksentscheide, nicht nur bei Vertragsänderungen, sondern auch bei Initiativen zur EU-Gesetzgebung könnten ein Gefühl für die gemeinsam zu lösenden Probleme schaffen. Gleichzeitige Abstimmung könnten das Interesse an der spezifischen Sichtweise in anderen Mitgliedsstaaten schärfen. Zu hoffen wäre, daß die Erkenntnis der unterschiedlichen Ausgangspositionen, insbesondere von armen und reichen Mitgliedsstaaten, eher zu gegenseitigem Verständnis als zur Desintegration führt.

Die letzten 30 Jahren haben gezeigt: Eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit wächst nicht von selbst. Sie muß durch institutionelle Reformen gezielt gefördert werden. Die Aufwertung des Europäischen Parlaments darf dabei kein Selbstzweck sein. Letztlich aber gibt es keine Öffentlichkeit ohne das Interesse der Medien, der Verbände sowie jeder und jedes einzelnen von uns. Wer Europa den Wirtschaftslobbys überläßt, braucht sich über eine entsprechende Politik nicht zu wundern. Christian Rath