Mündige BürgerInnen

■ betr.: „Zappen, Dämmern, Lü gen?“, taz vom 19. 6. 95

Die taz berichtet über eine Diskussion auf dem Evangelischen Kirchentag, an der unter anderen der Intendant des NDR, Jobst Plog, und ich teilnahmen. Ihr Berichterstatter erweckt den Eindruck, ich hätte auf die Bemerkung von Jobst Plog, in einer Gesellschaft, die akzeptiere, „daß zwei bis drei Millionen Kinder am Wochenende vor ,Rammelfilmen‘“ säßen, müßten Grenzen gesetzt werden, geantwortet: Ich warnte vor solch „elitärer Position“. Dies ist falsch. Richtig ist, daß ich die von Herr Plog monierten Filme ebenso degoutant finde wie er und daß auch meiner Auffasung nach Kinder schon gar nicht davor gehören. Meine Bemerkung bezieht sich vielmehr, und das habe ich auch umfänglich ausgeführt, auf die Feststellung von Herrn Plog, der mündige Bürger sei „eine Zielvorstellung“. Da bin ich wirklich anderer Meinung.

Der mündige Bürger ist ein mündiger Bürger, denn es wird ihm die Macht des mündigen Bürgers kraft Gesetz verliehen. Ich halte in der Tat die Position für elitär, zu denken, in Wirklichkeit sei ein Großteil der Bürger unmündig und bedürfe des leitenden Händchens des Staates, der Verbände oder gar der Medien. Nein, der mündige Bürger kann auswählen unter einem äußerst vielfältigen Informationsangebot und trifft seine Entscheidung, was er lesen, was er hören, was er sehen will, wenn er mit sich und seiner Zeitschrift, seinem Fernseher oder seinem Radio allein ist. Das ist die Freiheit, die die Demokratie bewußt gewährt. Und Freiheiten beinhalten auch immer Risiken. Das ändert nichts an der Verantwortung der Medienmacher für das, was sie anbieten. Jeder Verantwortliche hat mit sich selbst ins Gericht zu gehen, wozu er stehen, was er vertreten will.

Unumstößlich bleibt der Auftrag für die Medien, den Bürger nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu informieren und urteilsfähig zu machen. Dazu gehört faktengetreue Berichterstattung, aber auch Meinung. Und zum Glück ist der mündige Bürger urteilsfähig genug, zwischen gut und schlecht, zwischen abgeschmacktem, spekulativem und engagiertem Journalismus unterscheiden zu können. Die Moral in dieser Gesellschaft wird jedoch an anderer Stelle gemacht: Solange Bundeskanzler im Verdacht stehen, prallgefüllte Geldkuverts für ihre Partei entgegengenommen zu haben, solange Gewerkschaftsführer mit Insiderwissen an der Börse spekulieren, solange Polizisten mit Ganoven halbe-halbe machen, solange Unternehmensführer in die Kasse greifen, solange Kirchenfürsten mit doppelter Moral leben, kurz, solange diejenigen, die für unsere Gesellschaft Vorbild sein sollten, nicht wirklich Vorbilder sind, solange dürfen wir nicht erwarten, daß die Moral eine andere wird. Die Medien berichten, was ist. Erst wenn keine Ministerpräsidenten mehr doppelte Bezüge einkassieren, wenn es keine „Schneider-Affären“, keine Pfeiffer- oder Barschel-Skandale, keine bestechlichen Beamten mehr gibt, dann hat die Presse weniger über solche Dinge zu berichten. Und wenn der Fernsehzuschauer bei bestimmten Programmen ausschaltet, dann werden auch diese Programme verschwinden. Gerd Schulte-Hillen, Vorstandsvorsitzender Gruner + Jahr AG