Eine Stadt am Ende ihrer Zeit

Leung Pingkwan stammt aus China, wuchs in Hongkong auf und setzt sich nun für die kulturelle Identität dieser „Transitzone“ ein  ■ Ein Porträt von Beate Rusch

Immer wenn der Hongkonger Schriftsteller Leung Pingkwan auf Reisen geht und Freunde ihn zu sich nach Hause einladen – sei es in New York, Chicago oder Berlin – wird er ein wenig neidisch. Er beneidet seine Freunde um ihr Zuhause, wo Platz ist für Bücher und Besucher. Das klingt banal, und ist es dann doch nicht: „In Hongkong sind wir anscheinend immer in Bewegung. Nirgends kommen wir zur Ruhe. Alles ist im Fluß: die Zukunft unbestimmt. Bücher bleiben unausgepackt in Kisten. Freunde und Kollegen emigrieren.“ Der 49jährige Leung Pingkwan hegt noch keine Auswanderungspläne. Wie lange noch, vermag er nicht zu sagen.

Leung Pingkwans Biographie ist typisch für diejenige Generation von Chinesen, die nach der Machtübernahme durch die Kommunisten die junge Volksrepublik China als Kinder verließen und in Hongkong aufwuchsen: „An einem Ort wie Hongkong, wo der Großteil der Bevölkerung aus Chinesen besteht, sprechen wir im Alltag kantonesisch, einen südchinesischen Dialekt, und schreiben modernes Chinesisch für eine chinesische Leserschaft. Wenn wir auch Bräuche von unseren Eltern und der Generation unserer Großeltern bewahrt haben, so wurden wir doch im Gegensatz zu ihnen von unterschiedlichsten Kulturen beeinflußt. Man könnte sagen, wir sind in einer Zwitterkultur aufgewachsen, mit all ihren widersprüchlichen Werten und der Angst, ständig mißverstanden zu werden, sobald wir die eine oder andere Grenze überschreiten.“ Nach der ungeliebten britischen Schulbildung, die eine Rücksichtnahme auf die besondere Situation Hongkongs nicht kannte, machte sich diese Generation auf, im Ausland zu studieren. Leung Pingkwan ging in die USA, studierte Literatur, begeisterte sich für die Beatgeneration und übersetzte lateinamerikanische Literatur ins Chinesische.

Zurück in Hongkong versuchte er sich in den unterschiedlichsten Berufen: als Lehrer, Literatur- und Filmkritiker, Journalist und Drehbuchautor. Heute ist er als Schriftsteller bekannt unter seinem Pseudonym Ye Si und als einer der wenigen, die sich um die Hongkong-Kultur und die Identität seiner Bewohner in der Transitzone zwischen Kapitalismus und Sozialismus bemühen. Seine Kurse, die er zum Film, zur Litertur und zur Kultur Hongkongs an der Universtität anbietet, sind überlaufen. Auch im Kulturzentrum spricht er über Hongkong-Kultur und verteilt Zertifikate an jeden, der mit ihm diskutiert. Ein solches Zeugnis zählt hier was. Und damit lockt er Leute an. Ihm liegt daran, all diejenigen zu widerlegen, die in Hongkong eine kulturelle Wüste sehen oder schlicht den großen Flugplatz, auf dem ein jeder nur auf den nächsten Flieger wartet.

Ausländer führt Leung Pingkwan gern nach Lan Kwai Fong, einen kleinen Distrikt in Central. Hier, in der „June Fourth Bar“ – benannt nach dem Datum des Tiananmen-Ereignisses –, in der man sich kennt und sich Ausländer mit Hongkongern zum Bier treffen, ist ein Hauch Geschichte spürbar in der ansonsten überall gleich jungen Stadt. In den zwanziger Jahren kam man nach Lan Kwai Fong, um bei fliegenden Händlern für wenig Geld Blumen oder Stoffe zu kaufen und auch, um sich mit einem Heiratsvermittler zu treffen. In den siebziger Jahren zog der Distrikt Künstler jeglicher Couleur an. Die Mieten waren erschwinglich und die Nähe zum Zentrum bestechend. Leung erinnert sich gerne, wie sie bei billigem indischem oder vietnamesischem Essen in den kleinen Restaurants, die sich noch heute im ersten oder zweiten Stock verstecken, zusammensaßen und die Köpfe heiß redeten. Nicht weit ist es von hier bis zu den alten Kolonialgebäuden, die heute den internationalen Presseclub und den Fringe Club mit seinem Theater und seinen Ausstellungsräumen beherbergen. Hier, zwischen den Kolonialbauten, den alternativen und kommerziellen Bars und Kneipen, den Vietnamesen, Indern und Langnasen sucht Leung Pingkwan die Antwort auf die ihn drängende Frage: Was ist Hongkong und wer ist Hongkonger?