: Undinge: Lupinen Von Claudia Kohlhase
Die Lupine ist nicht wirklich ein Unding. Die Lupine ist eher ein Mittelding zwischen Unding und Ding. Es kommt darauf an, mit was man sie vergleicht. Im Vergleich mit Gräsern zum Beispiel ist die Lupine ein Mordsding. Aber im Vergleich mit, sagen wir, der Gemeinen Pestwurz ist sie eher ein Ding. Alles in allem sind Lupinen aber durch und durch Lupinen. Ja, Lupinen sind im Grunde derart Lupinen, daß auch Menschen, die noch nie Lupinen sahen, sofort wissen: aha, eine Lupine, beziehungsweise: aha, Lupinen.
Ich weiß nicht, ob es an der Lupine selbst oder an ihrer Bahndamm-Aura liegt, jedenfalls tun alle so, als wären Lupinen das Normalste von der Welt und nicht etwas sehr Seltenes. Kaum sehen diese Menschen die Lupinen, also meine, mümmeln sie schon sorglos an dem Wort Lupine herum und experimentieren mit halben und ganzen Sätzen, die etwa so klingen: „Mein Gott, diese Lupinen!“ Oder: „Hat schon mal jemand solche Lupinen gesehen?“ In Wirklichkeit wird hier keine Antwort erwartet, auch wenn ich es gerne sähe, wenn ich sagen könnte, daß ich solche Lupinen täglich sehe, und zwar genau diese. Ich glaube aber, daß solche Antworten der Lupineneuphorie eher schaden, darum schweige ich tapfer still und tue nur angelegentlich so, als würde ich Lupinen kennen.
Dabei weiß ich leider was. Ich weiß zum Beispiel, daß Lupinen Hülsenfrüchtler sind und zu Pfahlwurzelbildung neigen. Andererseits sind Lupinen verdächtig gesellschaftsfähig und als Sojabohnenersatz geeignet, sollten Sojabohnen eines Tages ausfallen und das Tofu-Lager aushungern. Ich weiß sogar, daß es 1958 im Süderdithmarschischen das „Stormsche Lupinen-Tüpfelverfahren“ gab, mittels dessen Forstwart Storm das Breitsaatverfahren ad absurdum führte.
Aber was nützt mir das alles, wenn meine Tante kommt und ruft: „Kuck mal, die Lupinen!“ Da ich meine Tante liebe, sage ich: „Tatsächlich, da sind ja Lupinen!“, worauf wir beide denn doch lachen müssen und mein Onkel die Szene knipst. Doch es gibt natürlich auch Menschen, die beim Anblick von Lupinen an nichts denken, und warum auch. Lupinen müssen ja nicht jedem etwas sagen, manchem sagen eben Ranunkeln (???, der K.) mehr. Möglicherweise ist dem ein oder anderen die Lupine auch zu hochgeschlossen oder aufgeschossen. Oder der Hummelbetrieb ist zu kardinal.
Dazu kommmt noch, daß eine Lupine wie die andere aussieht. Vielleicht ist das ja der Grund, warum Lupinen so gerne an Bahndämmen herumstehen. Reisende sollen wohl von Lupinen nicht aufgehalten werden. Und andererseits werden Bleibende von Lupinen nicht allzusehr in die Ferne gezogen. Denn wer solche Lupinen in der Nähe hat, der kann genausogut am Orte verhaften. Das sehe ich doch an mir, die stundenlang in der Nähe aushält.
Wer jetzt immer noch nicht weiß, was Lupinen sind, obwohl er das längst wissen müßte, dem muß ich sagen: Lupinen kann man nicht beschreiben. Oder man müßte zu Wörtern greifen wie „kerzenförmige Traubenblütler“ oder „endständige Schmetterlingsblütler“. Außerdem haben Lupinen noch Blätter. Vielleicht muß man Lupinen doch sehen. Nicht direkt, um Lupinen zu verstehen. Vielleicht einfach so.
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